Ich habe noch kein echtes Erdbeben erlebt. Erdbeben werden stets als schicksalshafte Momente erlebt, als Dinge, die unabänderlich und ohne Vorwarnung auf die Menschen zukommen, vieles zerstören und Menschenleben kosten können. Unglaubliche Kräfte der Natur werden frei und führen zu nachhaltigen Veränderungen in der Natur und dem Umfeld von Menschen. Es können Risse im Boden entstehen und die Teile der aufgebrochenen Erde können gegeneinander verschoben werden. Ungeheuere Flutwellen können ausgelöst werden, wie vor einigen Jahren in Japan geschehen. Ich erinnere mich an die Bilder aus Mittelitalien vor einigen Jahren. Um die getroffenen Städt und die beschädigten Kunstdenkmäler tat es mir leid, denn ich mag diese leicht morbide und pittoreske Stimmung des Verfalls italienischer Stadte sehr, und natürlich um die Menschen.
Einerseits begeistert mich diese immense Kraft und die rücksichtslose Wucht der Natur. Andererseits machen die Bilder von zerstörten Städten sehr betroffen und das Leid der Menschen geht mir nahe. Und ich kann bestenfalls erahnen, was es bedeutet, kein Heim mehr zu haben, weil alles in trümmern liegt. In diesen Tagen aber, nach einem inneren Beben, frage ich mich, ob es nicht auch eine Perspektive geben könnte, die etwas Gutes und Zukunftsweisendes in einem Erdbeben zu sehen in der Lage ist.
Ich stelle mir vor, wie durch einen Riss in der Wand auf einmal Licht dorthin fällt, wo bislang keines war. Ich sehe auch die wackelige Wand, die noch nicht entschieden hat, in welche Richtung sie fallen will. Und denke an viele unwichtige Dinge, die aufgehoben wurden, weil man sich nie zum Wegwerfen durchringen konnte, jetzt aber diese Entscheidung nicht mehr getroffen werden muss. Und natürlich denke ich daran, dass manchmal etwas Altes vollständig zusammenstürzt und nicht mehr wieder aufgebaut werden kann. Es macht Platz für etwas Neues, was vorher noch nicht einmal erdacht worden war. Das Beben reißt vielleicht manchmal etwas weg, an dem ich sehr gehangen habe, ohne darüber nachgedacht zu haben, dass es vielleicht gar nicht erhalten werden kann, mich gleichzeitig aber blockiert, weil ich den dabei entstehenden Raum für etwas Neues nicht sehe.
Es ist sicher schwer, mitten im Schutt zu stehen und alles positiv zu sehen, es grenzt wahrscheinlich emotional an eine Überforderung. Aber ich erlebe mich gerade so – und möchte es mit dem Blick auf die Zukunft als etwas Positives sehen. Es schafft Platz, wenn ich etwas Altes loslasse und aufräume, wo vorher etwas stand. Und ich die Fantasie und meine Wünsche walten lassen kann, um für mich wieder etwas Neues, Wertvolles aufzubauen.