Loslassen

Gestern war ich zum Abschied noch einmal in der Klinik in Uffenheim. Dort findet immer am Dienstag eine Veranstaltung statt, bei der man auch als Gast teilnehmen darf. Sie heißt Plenum und es werden im Verlauf dieser Stunden die Patienten, die entlassen werden, verabschiedet und die neu angekommenen Patienten begrüßt und in die Patientengemeinschaft aufgenommen. Und ich hatte gerade meine Wohnung geräumt und final gereinigt und hatte das Gefühl, dass gerade ein Zeitabschnitt zu Ende gegangen war. Mit diesem Besuch wollte ich, ähnlich einem Ritual, für mich dieses Ende besiegeln und mir noch einmal Stärkung durch die Gemeinschaft der Patienten holen.

Noch vor dem Beginn der Veranstaltung begegnete ich meiner früheren Oberärztin. Es war für mich ein frohes Wiedersehen, ich war ihr bereits vor einigen Tagen in der Würzburger Innenstadt begegnet. Ich mag das Funkeln und Leuchten in den Augen, das fast immer spürbare Schmunzeln in ihrer Mimik und die klare und sachliche Sichtweise auf die Probleme ihrer Patienten. Und ich nahm gerne ihr positive Bewertung meines Vorhabens auf, ihre Mut machenden Worte und die Anregungen, die immer darin mitschwingen. Gestern waren es ihre Gedanken zum Loslassen. Ich hatte ihr berichtet, wie sehr ich gerade jetzt – zu meiner eigenen, großen Überraschung – mit einer so bodenlosen Traurigkeit zu kämpfen habe.

Und sie wies mich auf den Aspekt hin, dass das Loslassen eine Übung ist, die den Menschen am schwersten fällt. Insofern wäre sie nicht überrascht von dem Aufkommen dieser Traurigkeit. Mir war das vorher nicht so klar gewesen. Und ich fing an, über mein Loslassen nachzudenken. Und als wäre es ein Zeichen für mich allein, las eine Patientin zum Abschied ein selbstgeschriebenes Gedicht an ihr Inneres Kind. Es hat mich sehr berührt, wie sie versprach, ihr Inneres Kind immer und überall zu beschützen. Ich bin selbst bereits häufig dieser Art therapeutischer Arbeit begegnet und halte sehr viel davon. Und behandle mein inneres Kind meistens unbewusst und unreflektiert ziemlich schlecht, eben genau so, wie ich es bei meinen Eltern gelernt habe.

Zitat: „In der Arbeit mit dem Inneren Kind wird davon ausgegangen, dass ein Mensch, der als Kind wenig Liebe und Anerkennung erfahren hat und häufig durch Missachtung, Liebesentzug, Verlassenwerden oder Entwertung verletzt wurde, in seinem Selbstwertgefühl beschädigt wurde und dann als Erwachsener ein unangemessen großes Verlangen nach Zuwendung durch andere Menschen entwickelt, und dass bei einem solchen Menschen schon wenig Kritik alte Kindheitsverletzungen aktualisieren kann und er dadurch übermäßig kränkbar ist.“ aus: Wikipedia.de. Wer mehr wissen möchte: hier!

Und heute hatte ich meinen Abschlussbesuch bei meinem hiesigen Traumatherapeuten. Ich erzählte ihm von der Traurigkeit, die mich immer wieder packt. Daraufhin gingen wir dem Thema etwas mehr auf den Grund. Und er fragte mich, ob ich eine Idee hätte, wo dieses Gefühl seinen Ursprung hätte, wo ich es verorten könne. Und ich musste daraufhin fast eine Minute mit mir ringen, bis ich es schaffte, auszusprechen, was ich gedacht hatte. Und schaffte es dann, es auszusprechen, dass ich eine ganz starke, innere Sehnsucht habe, im positivsten Sinne umarmt und gehalten zu werden, wie man es sich von einer Mutter vorstellt. Und schämte mich ob dieses Eingeständnisses. Ich merkte dabei auch, was es für Kraft gekostet hatte, das auszusprechen und gleichzeitig eine Befreiung, es ausgesprochen zu haben, ohne dass der Therapeut insistiert hätte.

Da war es wieder, das verletzte, Innere Kind, das so gerne von seiner Mutter geliebt worden wäre, getröstet worden wäre, wenn es traurig war und im Arm gehalten worden wäre. Mir ist natürlich klar, dass dies nachzuholen nicht mehr möglich ist, ich muss mich im übertragenen Sinne selbst in den Arm nehmen. Und wäre es doch noch möglich, dann könnte ich es von meiner eigenen Mutter niemals mehr annehmen, auch wenn sich das jetzt paradox anhören sollte. Und mir ist ebenfalls bewusst, dass das Sicherheitsbedürfnis und meine gravierende Unsicherheit im Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen ebenfalls aus dieser Quelle entspringt.

Mein Therapeut meinte, dass das, was ich offensichtlich derzeit versuche loszulassen, vielleicht das Allerschwerste ist. Nämlich sich von dieser nicht mehr zu stillenden Sehnsucht nach mütterlicher Annahme, Akzeptanz und Gehaltenwerden zu lösen, um davon frei zu werden. Und ich habe das Gefühl, nun einer neuen Wahrheit näher gekommen zu sein. Dass nämlich nach dem Zorn jetzt die Trauer ausreichend Raum benötigt, damit die alten Wunden heilen können und eine Vergebung möglich wird, wie ich sie unter „Trauer“ beschrieben habe. Und dass dieser Versuch des Loslassens, den ich gerade unternehme, auch den Umfang an Trauer gerechtfertigt erscheinen lässt.

Also werde ich versuchen, diese Trauer endlich zuzulassen. Bei einem Telefonat heute liefen mir fast kontinuierlich die Tränen aus dem rechten Auge. Ein guter Anfang! Ich werde die Trauer mit auf meinen Weg nehmen und sie als etwas respektieren, was zu mir gehört und wozu ich berechtigt bin. Und werde versuchen, mich im Loslassen zu üben, frei zu werden. Denn das Leben wartet auf mich.

Loslassen

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