Schlüssel

In den vielen Jahren meines Lebens haben sich diverse Gewohnheiten herausgebildet. Manche davon sind nützlich und andere wiederum unsinnig, einige sind mir lieb geworden, wieder andere gehen mir auf die Nerven. Und einigen Mitmenschen vielleicht auch. Zu denen, die in meinem Leben sinnvoll sind und eine vernünftige Struktur bedeuten, gehört auch die Ordnung in meinen Hosentaschen. Als ich ein Kind war, herrschte dort beispiellose Unordnung, die sich immer mehr als unpraktisch herausgestellt hat. Und so kehrte nach und nach ein sinnvolles System ein, das zum Beispiel ausschloss, dass ich den Geldbeutel in der Gesäßtasche bei mir hatte. Das sah ohnehin nicht gut aus. In der linken vorderen Tasche habe ich bis heute stets ein Taschentuch bei mir, ein sinniges Utensil bei laufender Nase, heftigem Niesen oder auch bei eventuellen Tränen. In der rechten Tasche der Hose habe ich stets meine Schlüssel. Dies hatte als positive Nebenwirkung, dass ich meine Schlüssel nie verloren habe und bis heute nach einem kurzen Griff auf die Tasche sicher sein konnte, dass ich ihn bei mir hatte und nicht in der Wohnung liegen ließ, wenn ich diese verlassen wollte. Sichtbares Zeichen war dafür allerdings, dass der Stoff der Jeans stets dort am meisten abgenutzt war, wo die Schlüssel darunter waren.

Wann immer ich derzeit wandernd im Sinne eines gezielten Bein- und Ausdauertrainings unterwegs bin, stelle ich mir vor, gar nicht in Mitteleuropa zu sein, sondern bereits auf dem Weg in den USA. Es ist eine Spielerei mit den Gedanken, die mich sehr freut, auch wenn ich nur über feuchte Wald- und Feldwege gehe und nicht durch die Wüste. Und dabei ist mir dann die Sache mit den Schlüsseln eingefallen. Ich habe nie verstanden, warum bei manchen Mitmenschen das Schlüsselbund aus über zwanzig Einzelteilen bestehen musste. Es nahm bisweilen durch zusätzliche Talismane, Pfeifen o.ä. derartigen Umfang an, dass eine Unterbringung in der Hosentasche schlichtweg unmöglich wäre. Infolgedessen wurden sie daher immer aussen am Gürtel getragen, wodurch man diese Zeitgenossen meist schon kommen hörte, bevor man sie sah. Ich habe immer das Gegenteil versucht. Meine Maxime war immer, nur die Schlüssel bei mir zu haben, die ich auch wirklich benötige. Das sind derzeit der Haus- und Wohnungsschlüssel und jeweils einer für Keller und Briefkasten. Zusätzlich habe ich ein kleines Taschenmesser und einen Nagelknipser dabei, bisher ein sehr bewährtes Hilfsmittel bei meinen Jobs in der Industrie. Manchmal habe ich noch den Schlüssel fürs Auto oder das Motorrad bei mir, wenn ich absehen kann, dass ich das Fahrzeug benutzen werde.

Und nun stelle ich mir vor, endlich auf dem Weg zu sein. Ich habe meine Würzburger Wohnung fristgerecht gekündigt, meinen Besitz eingelagert oder veräußert und mich aufgemacht. Ich habe dann keinen Wohnungsschlüssel mehr, auch keinen für den Briefkasten. Das kleine Taschenmesser verdient ja kaum diese Bezeichnung und ist eigentlich nur noch dabei, weil ich es immer wieder vergesse, es endlich vom Schlüsselring zu entfernen. Und der Nagelknipser ist über zwanzig Jahre alt und ziemlich abgenutzt. Beide Teile haben in meinem zukünftigen Leben gar keinen Platz, da sie keinen Sinn mehr haben. Auch mein Auto wird dann Geschichte sein, sodass ich auch den Schlüssel nicht mehr haben werde. Und dass ich den Zündschlüssel des Motorrads auf einer Wanderung auf dem PCT dabei haben werde, nehmt selbst Ihr sicher nicht an. Aber was wird dann in der rechten Tasche der Hose sein? Leere? Es ist für mich ein ziemlich komischer Gedanke, dass es da keine Schlüssel mehr geben wird, die wichtig genug sind, dass ich sie immer bei mir habe. Bestimmt finde ich im Verlauf der Wanderung eine Struktur, die auch die Nutzung der rechten Hosentasche mit sich bringt. Zunächst wird sie aber nach vielen Jahren zum ersten Mal leer sein. Ich werde durch den Zoll gehen, die Sicherheitskontrolle passieren und ein Flugzeug besteigen – und werde keine Schlüssel dabei haben. Verrückt….

In den letzten drei Wochen, seit ich die neuen Schuhe besitze, bin ich mit ihnen über 200 km gelaufen, meist eine vertraute Waldstrecke und dann über Feldwege und querfeldein. Es ist noch immer ein gutes Gefühl sie anzuziehen, ich freue mich noch immer über sie, auch wenn sie bereits aufgrund des herbstlichen Wetters einiges an Dreck abbekommen haben. Es läuft sich gut darin, ich fühle mich sicher auf lockerem Untergrund. Noch schmerzen die Muskeln und Sehnen der Füße nach 25 Kilometern, sie sind die harte Sohle noch nicht wirklich gewöhnt, aber es wird bereits spürbar besser. Und das Wichtigste: Bisher gibt es keine Tendenz, dass sich irgendwo Blasen bilden könnten. Und das fühlt sich ausgesprochen gut an. Ich freue mich zudem, dass die Beine problemlos mitmachen und nirgendwo Anzeichen für Überbelastungen auftauchen. Natürlich sind sie noch immer nicht wirklich trainiert, aber dafür machen sie bereits jetzt einen guten Job. Beim Laufen kann ich die Muskeln im Oberschenkel spüren, die gegen den Stoff der Hose arbeiten und freue mich, dass sie da sind und so gut funktionieren. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr so bewusst wahrgenommen. Und sie werden sich in Zukunft nicht mehr an den Schlüsseln in der rechten Hosentasche reiben.

 

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