Im August war ich eine Woche lang in der Normandie. Seit ich als Busfahrer arbeite, habe ich nur noch einzelne Tage als Urlaub genutzt, wenn ich etwas dringendes erledigen musste. So freute ich mich besonders darauf, wieder einmal ins Ausland, ans Meer und auf andere Gedanken zu kommen.
Durch einen glücklichen Zufall fiel mein Urlaub zeitlich mit der großen Feier anläßlich der ewigen Profess von Frère Godefroid zusammen, den ich noch in Würzburg als Matthieu kennen gelernt hatte. Ich war zu diesem Fest eingeladen worden. (Die ewige Profess ist die feste Bindung an einen Orden beziehungsweise an eine Abtei und ihren Abt, ähnlich einer Eheschließung.) Auf diese Weise schafften wir es, nachdem es bereits mehrfach nicht geklappt hatte, dass wir uns, nach inzwischen acht Jahren, wiedersehen konnten. Denn er lebt ja seit seinem Eintritt in den Orden in der Normandie in Nordfrankreich.
Wir hatten uns bereits am Mittwoch getroffen, einige Stunden miteinander verbracht und den Kontakt wieder aufgefrischt, der durch die Jahre ein bisschen nachgelassen hatte. Ich erlebte ihn fröhlich, lebhaft und impulsiv wie immer, und es war nicht leicht, selbst zu Wort zu kommen. Mir schien, dass er auf geheimnisvolle Weise vollkommen mit sich im Reinen ist – ein Zustand, den ich von mir nicht kenne und um den ich ihn sehr beneide.
Am Freitag war dann der große Tag. Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche war ich zu einem katholischen Gottesdienst in einer Kirche. Für mich ist das eher ungewöhnlich, seit Jahren gehe ich nur in eine Kirche, wenn sie mich architektonisch interessiert oder ein klassisches Konzert stattfindet. Diesmal jedoch war ich mit dem Herzen dabei, denn es war der Festgottesdienst anlässlich der ewigen Profess von Frère Godefroid. Die Kirche war bis zum letzten Platz gefüllt mit Freunden und Familie, und aus einem diffusen Gefühl heraus wählte ich einen Platz in der letzten Reihe, auch aus dem Gedanken heraus, schnell flüchten zu können. Denn das stand irgendwie für mich im Raum.
Und während des Gottesdienstes wurde das Gefühl immer stärker, dass ich hier nicht hingehörte, dass es falsch war, an diesem Platz zu sein. Obwohl ich den Ablauf des Gottesdienstes und die Rituale gut kannte, sind sie mir sehr fremd geworden. Den konfessionellen Vorgaben blind zu folgen, ist für mich einfach undenkbar geworden. Die anwesenden Pfadfinder erinnerten mich zudem mit ihren Uniformen und Fahnen an alte Bilder und Filme über die HJ, auch wenn das sicher ungerecht ist. Und viele der Rituale kommen mir bisweilen wie Hokuspokus vor, wie man ihn von irgendwelchen Ureinwohnern ferner Länder kennt. Es erscheint mir mit meinem Bisschen an Bildung und Intellekt undenkbar, all das blind zu schlucken, was man mich glauben lassen will.
Ich habe bis zum Ende des Gottesdienstes durchgehalten. Eine ziemlich schwere Übung! Und das Gefühl des Fremdseins wurde noch dadurch verstärkt, dass überwiegend französisch geredet wurde, was ich nur bruchstückhaft verstehe. Natürlich war das völlig in Ordnung, machte es mir aber nicht leichter. Trotz der überaus freundlichen Einladung zum anschließenden Festessen mit regionalen Spezialitäten merkte ich, dass es über meine Möglichkeiten ging, das auch noch auszuhalten. Bei all der Freude, die sich in den Gesprächen nach dem Gottesdienst entwickelte, war es mir nicht möglich, mit Frère Godefroid kurz darüber zu sprechen und mich zu erklären. Infolgedessen flüchtete ich ohne Erklärung, mit einem großen, schlechten Gewissen ihm gegenüber.
Den ganzen Nachmittag ging mir das sehr nach und ich war ziemlich schlechter Stimmung. Mir wurde klar, dass da noch etwas Anderes zum Schwingen gebracht worden war, was mit meiner Vergangenheit in Sachen Religion und der Institution Kirche zusammen hing. Es gibt Erlebnisse, die ich mit Priestern gemacht habe, die mein Verhältnis zur Kirche sehr nachhaltig gestört haben. Und da ist so einiges, was ich erlebt habe! Und dann fiel mir ein Foto ein, das ich noch zu Zeiten meiner Ausbildung gemacht habe. Es war eine Aufgabe aus unserem Pensum und lautete: Pfarrer in der Kirche. Ich war zwar nicht zum Fotografen geboren, daher ist mir auch bewusst, dass ich während der Ausbildung ziemlich limitierte Fähigkeiten hatte, was sich naturgemäß auch auf die Qualität der Aufnahmen auswirkt.
Manchmal habe ich jedoch das Gefühl, dass einige dieser Aufnahmen aus der Ausbildungszeit genau das visualisierten, was ich gefühlt hatte, ohne es in Worte fassen zu können. Und so machte ich mich, nachdem ich wieder zu Hause war, auf die Suche nach diesem Bild. Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt noch visuelle Zeugnisse der Ausbildung gab, ich hatte früher schon vieles vernichtet. In den Tiefen des Kellers durchsuchte ich verschiedene Ordner und fand am Schluß tatsächlich die Originalnegative in gutem Zustand.
Trotz meiner inneren Vorbehalte gegen das Bild habe ich mich an den Scanner gesetzt und das Negativ digitalisiert. Den originalen Schwarzweißfilm habe ich direkt danach durch den Schredder gejagt. Mit der Atmosphäre, die für mich aus diesem Bild spricht, verbinde ich all die Last und den Druck, den der Aufenthalt im Gottesdienst mit sich bringt. Da ist besonders die Androhung von Strafe, die ich sehr mit meiner Kindheit verbinde. Da ist eine Freudlosigkeit und erstarrte Ernsthaftigkeit, die in so einem krassen Gegensatz zu der Fröhlichkeit von Frère Godefroid steht. Und es ist eine Härte und Kälte für mich spürbar, die ich sehr direkt im Wesen meiner Mutter wiederzufinden glaube, besonders, wenn man nicht tat, was sie wollte oder für richtig hielt.
Ich erinnere mich an diesen Pfarrer, wie er auf der Kanzel stand, um die wöchentlichen Meldungen aus dem Gemeindeleben zu verlesen. Wenn dann während seines Vortrages ein zu spät kommender Kirchgänger die Kirche betrat und sich irgendwo in eine Bank drängte, hielt er mit dem Vortag inne und sah die entsprechende Person so lange strafend an, bis diese sich gesetzt hatte und die andächtige Ruhe wieder eingekehrt war. Schweigen als kollektive Strafe! Und da immer wieder Leute zu spät kamen, wiederholte sich diese Prozedur entsprechend oft. Ich glaube, er sah sich als wichtige Persönlichkeit – er war ja Monsignore und trug einen violetten Gürtel – nicht ausreichend respektiert. Dabei übersah er aber wohl, dass er eigentlich ein „Diener“ Gottes sein sollte und kein Knecht Rupprecht mit der Rute, der die bösen Kinder unter Androhung von Strafen zu Wohlverhalten zu erziehen suchte.
Und ich erinnere mich, dass er mich und meine erste Freundin zu einen Gespräch in sein Büro zitierte. Im Verlauf dieser Unterhaltung berichtete er, dass er Kenntnis davon erhalten hatte, dass ihr Motorrad vor meiner Wohnung gestanden hatte, und zwar die ganze Nacht lang. Dieses unerhörte Verhalten, das gegen jegliche Regeln der katholischen Kirche verstieß, weil es ja vorehelichen Geschlechtsverkehr implizierte, verführte ihn zu einer Moralpredigt, in deren Verlauf er uns sagte, wir seien mit unserem Verhalten ein Ärgernis in der Gemeinde.
Wir haben das alles damals unwidersprochen über uns ergehen lassen. Eigentlich wäre es aus meiner heutigen Sicht angebracht gewesen, aufzustehen und grußlos zu gehen. Auch das in der Gemeinde offensichtlich vorherrschende Denunziantentum war ein Unding, wobei allerdings auch nicht auszuschließen ist, dass der entsprechende Wink von ihrer Mutter ausgegangen war, der diese „Unmoral“ unerträglich war. Und das alles hat sich nicht, wie man denken könnte, in den frühen 50er Jahren zugetragen, sondern Mitte der 80er Jahre in Berlin.
Unvorstellbar, dass ich das damals habe mit mir machen lassen. Ich kannte ihn zwar auch anders, da er in früheren Jahren vergeblich versucht hatte, die Ehe meiner Eltern zu retten. Er lebt auch seit vielen Jahren nicht mehr. Und doch haben diese beiden Episoden, mit anderen zusammen, dazu beigetragen, dass das ohnehin durch die Erlebnisse in der Kindheit ziemlich labile Verhältnis zu Kirche und Glauben irreparablen Schaden genommen hat. Viele Jahre später habe ich die Konsequenzen gezogen und bin aus der Kirche ausgetreten.
Ich respektiere alle Menschen, die im Glauben und in der Kirche fest verwurzelt sind. Mensch wie Frère Godefroid, die diesen Weg mit voller Überzeugung gehen, bewundere ich für die innere Sicherheit ihrer Einstellung, die ich nicht habe. Das Geläut der Glocken am Sonntag bringt regelmäßig etwas in mir zum Schwingen und ich liebe die gute Musik in der Kirche, unabhängig ob Orgel oder Chor. Und ich kann die architektonischen Meisterwerke bewundern, die dank der Institution Kirche entstanden sind. Glauben dagegen kann ich nicht mehr und fühle mich daher fremd und ausgegrenzt, eben einfach falsch an diesem Ort. Und das führt dazu, dass für mich ein Gottesdienstbesuch wie im August eine echte Herausforderung werden kann.
Und so wurde mein Besuch bei Frère Godefroid durch eine sehr alte Geschichte überschattet. Ich habe ihn kurz nach meinem Besuch per Brief um Entschuldigung für mein Verhalten gebeten. Bis heute lastet es noch immer auf mir, deshalb hat es nun tatsächlich vier Monate gedauert, bis ich diesen Beitrag fertig schreiben konnte. Nach wie vor fällt es mir schwer, die ganze Sache endgültig abzuhaken. Es tut mir noch heute leid, Frère Godefroid, dass ich an diesem Tag nicht anders konnte! Und ich hoffe, dass Du es nun verstehen kannst, wenn Du diesen Beitrag gelesen hast.
Lieber Matthias, wenn bei dieser Profess noch so viele andere Leute anwesend waren, ist es bestimmt nicht soooo schlimm, dass Du, mit verständlichen Gründen, gegangen bist. Mach Dir keinen Kopf, er ist Dir bestimmt nicht böse. Wenn man Dich kennt und mag, weiss man, dass Du nie grundlos oder gedankenlos etwas machst. Aber denk nicht immer so viel, besonders dass man Dir etwas nachträgt. Ich glaube, Menschen sind viel nachsehender als Du denkst. Alles Liebe, Inken