Stille

Es ist die Stille, die alles so unwirklich erscheinen lässt.

Ich lebe in der historischen Altstadt von Rottweil. Dieser Teil der Stadt liegt auf einem Felsen hoch über dem Neckar und wird nur von einer Straße durchschnitten, auf der die Autos mit 20 km/h rollen müssen, im Regelfall herrscht dort ziemlich reger Verkehr. Es ist nicht wirklich Lärm, außer wenn die Feuerwehr mit Sirene hindurch fährt, aber eine konstante Geräuschkulisse besteht schon, die ich bis zu meiner Wohnung wahrnehmen kann. Alle anderen Straßen in der historischen Altstadt sind schmale Gassen, in denen nur ein Auto fahren kann und das Aufkommen an Fahrzeugen eher gering ist. Dafür sind meist viele Menschen unterwegs, deren Schritte und Stimmen zur Geräuschkulisse meines Lebens gehören. Und Mittwochs und Samstags, wenn auf der Hauptstraße der Wochenmarkt stattfindet, fahren auch kleine LKW durch die Gassen, um das Material und die Stände anzuliefern.

Gestern war wieder einmal Samstag, und als ich erwachte, fiel mir diese Stille auf. Sie war bereits an den Tagen vorher spürbar gewesen, aber gestern war es überdeutlich. Schon in der Morgendämmerung konnte ich verschiedene Vögel hören. Später, als der Wochenmarkt bereits zögerlich frequentiert wurde, waren keine Menschen zu hören, die in der Gasse vor meinem Balkon unterwegs waren, und es fuhr kein Auto. Auch das  leichte Summen des Verkehrs fehlte vollständig. Nur die Masseurin von gegenüber telefonierte, und dank der allgemeinen Ruhe konnte ich jedes Wort deutlich verstehen. Eine unwirkliche Situation!

Ich bin eigentlich ein großer Freund der Stille. Oft habe ich mich früher, in Würzburg, über ein im Standgas laufendes Auto vor dem Haus geärgert, dass mir die Stille zerstörte. Und ich liebe die Geräusche der Natur, wenn keine anderen, von Menschen gemachten Geräusche dazu kommen. Ich möchte dann ungestört zuhören können und keinen Motor hören müssen. Auch das ist für mich Stille. Ich erinnere mich so gerne an das Erwachen im Zelt am Morgen. In diesem Aufwachen ist mir bewusst, dass die Natur um mich herum ist, und ich lausche dann aufmerksam, kann die verschiedenen Vogelstimmen unterscheiden, bemerke das Rascheln in den Gräsern und höre dem Wind oder auch den Regentropfen zu. Alles das gehört für mich dazu, wenn ich im Zelt aufwache. Aber diesmal lag ich in meinem Bett und in dieser Situation passte die Stille nicht, war die Ruhe irgendwie falsch und die üblichen Geräusche des Lebens fehlten.

Es war ein irgendwie diffuses Gefühl, von der Welt abgetrennt zu sein. Meine Existenz hier im morgendlich warmen Bett und die Welt draussen hatten nichts mehr mit einander zu tun. Während ich mich lebendig fühlte, war draußen alles erstarrt. Eine ähnliche Empfindung hatte ich schon einmal gehabt, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Das war in der schlimmsten Phase meiner Depressionen, als ich nicht mehr leben wollte und mich ebenfalls abgetrennt von der Welt und dem Leben fühlte. Damals war meine Leben erstarrt und zum Stillstand gekommen, während außerhalb des Raums, in dem ich mich gerade aufhielt, das Leben weiterging. Und es ist vielleicht genau diese Gedankenverbindung, die die Stille für mich so unwirklich, bedrohlich und beängstigend macht.

Ich werde mich ihr stellen und mich mit ihr auseinandersetzen, ich habe ja genügend viele Tage vor mir, an denen ich sie wieder erleben werde. Und ich werde versuchen, mit ihr zukünftig eine andere Assoziation zu verbinden und sie zu genießen lernen. Und werde mich hoffentlich wieder freuen, wenn ich die Amsel und die Finken hören kann.

 

Stille

Ein Gedanke zu „Stille

  • 29. März 2020 um 20:54 Uhr
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    Hi mein Lieber. Ich finde es sehr spuky, wenn ich Frühs zur Arbeit fahre und treffe auf fast keine anderen Autos…keine Busse….stoße. Gespenstische Ruhe überall. Jetzt am Sonntag höre ich ….Nichts von der B19. Nichts!!! Nur die Vögeln singen und die Katzen der Nachbarn kloppen sich und kreischen rum.
    Halte durch und bleib gesund. Hier Alles im Lot. Denk an Dich, Bussi, Inken

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