Ich bin gerade in:
Ich habe kurz die Kirche besichtigt und sitze nun auf einer Bank, um die Gedanken in Worte zu fassen, die ich schon den ganzen Tag mit mir herum trage.
Vielen meiner Freunde bin ich vielleicht schon auf die Nerven gegangen, indem ich immer wieder von meinen Eindrücken und Gedanken aus dem Buch „Nachtzug nach Lissabon“ erzählt habe. Für mich ist es mit Sicherheit das wichtigste Buch, das ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe. Es handelt von einem Aufbruch und verknüpft damit gleichzeitig die Geschichte eines bereits verstorbenen Arztes, der viele seiner Gedanken in Schriftform festgehalten hat. Und in vielem ahne ich Parallelen zu meinem Denken, wenn ich diese Gedanken lesen.
In seiner Schulzeit, als Jahrgangsbester, hatte dieser zukünftige Arzt die Ehre, die Abitur-Rede zu halten. Und mit dieser Rede schockte er die versammelte Lehrerschaft, indem er kontroverse Gedanken zu Kirche und Religion formulierte. Er beschrieb seine Freude am Ministranten-Dienst, den brennenden Altarkerzen, seine Liebe zu Kathedralen, zur Kirchenmusik und zu betenden Menschen. Und gleichzeitig äußerte er eine Abscheu vor Inhalten der christlichen Religion, die mit Knechtschaft, Unterordnung und absolutem Gehorsam einhergeht. Dabei beschrieb er einen Moment in seinem Leben, in dem ein intellektuelles Erwachen stattgefunden hat, welches das vorher niemals in Frage gestellte Fundament auf einmal durch Zweifel erschütterte.
Wie sehr liebe ich diese Rede. Und wie sehr hat sie auch mit mir zu tun, wenn gleich ich weder die Intelligenz noch die sprachliche Brillianz des jungen zukünftigen Arztes habe. Ich fühle mich mit ihm sehr verwandt, besonders in den Zweifeln. Wie auch er, so wollte ich in meiner Jugend einmal Priester werden. Damals schien mir das eine ganz klare Sache. Wo ist nur diese Klarheit hin?
Ich befinde mich zur Zeit in einem katholischen Land, auf einem Weg, der einen religiösen Ursprung hat. Das bringt es mit sich, dass, egal wie groß der Ort ist, der Weg immer an der Kirche vorbeiführt. Und als Mensch, der kunstgeschichtlich und architektonisch interessiert ist, gehe ich fast in jede Kirche. Ich tue dies zögernd, als ob ich nicht mehr berechtigt bin, diese Räume zu betreten. Denn innerlich bin ich abgetrennt von der Kirche.
Ich war in der Kathedrale von Le Puy, ein schöner Raum, der sich lohnt, angeschaut zu werden. Gleichzeitig befremdete mich die Vielzahl an Nonnen, die, unterstützt von Kindern in weiten weißen Gewändern, dort geschäftig herumeilten und durch Engagement und Ernsthaftigkeit ihre Wichtigkeit unterstrichen. Ihre demutsvolle Widerspruchslosigkeit und ihre Anpassung ärgert mich. Und gleichzeitig beneide ich sie um die innere Sicherheit, die dieser Einstellung zugrunde liegt. Wie einfach könnte es sein, würde ich genauso sein – und weiß doch, dass das unmöglich ist!
Viele andere Kirchen habe ich auch gesehen. Und fast immer erdrückt mich das Dunkle und Muffige, und der Kitsch, der meist unübersehbar ist, stößt mich ab. Ich bin hier nicht mehr zu Hause.
Ich traf eine Pilgerin aus Kolumbien, mit der ich mich gut auf Englisch unterhalten konnte. Im Rahmen unseres gemeinsamen Abendessens erzählte sie, dass sie nach Abschluss des Jakobswegs, der sie bis Santiago de Compostella bringen soll, fluchtartig Europa verlassen wird und über Weihnachten wieder in ihrer Heimat Kolumbien zurückkehren wird. Auf meine Frage nach dem warum antwortete sie, dass sie Weihnachten in Europa nicht erträgt: alles ist dunkel, grau, traurig, die Lieder inklusive. In Kolumbien dagegen ist Sommer und Weihnachten ein fröhliches Fest.
Und dieses Dunkle, Graue und Druck auslösende erlebe ich auch immer, wenn ich in eine Kirche gehe. Es hat zu tun mit Sünde, Schuld und drohender Bestrafung. Und ist irgendwie untrennbar verbunden mit meiner Kindheit. Und so war es auch eine Konsequenz meines intellektuellen Erwachens, dass ich vor einigen Jahren aus der Kirche ausgetreten bin. Ich war mir damals nicht sicher, ob es der richtige Schritt ist. Inzwischen bin ich der festen Überzeugung, dass es ein überfälliger Schritt gewesen ist. Ich bereue es nicht.
Und doch höre ich Bach! Jenen Komponist also, dessen Werk untrennbar mit lutherischer Glaubensauffassung verknüpft ist. Ich liebe seine Musik. Und es gelingt mir, sie fast vollständig von ihrem religiösen Kontext zu lösen. Vielleicht schaffe ich das auch in Zukunft mit den Kirchen? Kann dann vielleicht ihre Architektur bewundern und die Kunstwerke wertschätzen, ohne mich von den damit einhergehenden kirchlichen Inhalten erdrücken zu lassen?
Werde ich es noch einmal schaffen, ohne inneres Widerstreben eine Kirche zu betreten?
Lieber Matthias,
aufgewachsen in einer strengen Sekte, dann ausgetreten nach schwerem Schicksalsschlag, später intensivem Engagement in den katholischen und evangelischen Kirchen als Kirchenmusikerin, bin ich vor einigen Jahren – besonders durch mein Studium der Psychologie – zu der Erkenntnis gekommen, dass ich der Kirche entwachsen bin und bin ausgetreten. ich habe viele Male die Bibel durchgelesen und kannte viele Stellen auswendig. Im Studium erkannte ich, dass Jesus der wohl erste und beste Psychologe aller Zeiten war. Ich nahm seine Botschaft ganz anders wahr und konnte mit dem, was die Kirche daraus gemacht hatte, nicht mehr mitgehen.
Es hat lange gedauert, bis ich eine Kirche wieder betreten konnte. Zuerst musste ich den Schmerz fühlen, den ich mir selbst zugefügt hatte, indem ich mich und meine Natur unterdrückte, mich schuldig fühlte, mich meiner selbst schämte und vergeblich versucht hatte, den Gesetzen der Kirche zu folgen. Inzwischen bin ich durch diese Phase hindurch gegangen und kann Kirchen mit Wertschätzung vor ihren Erbauern betrachten. Ich sehe sie an, wie meinen Kindergarten, einen Ort, in dem ich mal sehr zu Hause war, die Regeln und Gesetze kenne, der mich nährte und prägte und auch schützte, der aber heute für mich nicht mehr passt. Ich habe die göttliche Energie, von der ich lebe und mit der ich mich in Verbindung fühle, von der Institution und den Gebäuden getrennt. Ich habe Respekt vor denen, die die Kirche für sich brauchen, aber ich gehöre nicht mehr dazu.
Ich liebe und spiele Bach, denn Musik ist mehr als die Funktion oder der Ort, an dem sie stattfindet oder wofür sie komponiert wurde. Bach hat nicht für die Kirche komponiert, sondern es war sein Ausdruck, die Erleichterung seines Druckes. Er bekam dafür Geld und hat damit seine Familie ernährt. Aber er war in seinem Komponieren frei. Musik ist frei, sie ist wie die Liebe selbst, sie lässt sich nicht vereinnahmen oder in enge Fesseln ketten. Sie ist frei und klingt dem oder bewegt und berührt, wen sie will.
Hast Du schon einmal etwas von Osho gelesen? Für mich war das „Buch der Kinder“ der Einstieg, der mir ganz viel Bestätigung, Heilung und Klarheit gebracht hat. Für mich ist Osho nach Jesus einer der größten Weisheitslehrer.
Wir Menschen brauchen Spiritualität, aber wir brauchen eine, die Körper, Geist und Seele gleichermaßen wertschätzt und liebevoll beachtet. Wir brauchen eine Spiritualität, die uns zurück führt zur Liebe zu uns selbst. Die Kirche konnte das bisher nicht bieten.
Ich freue mich, dass Du wieder auf dem Weg bist. Es ist spürbar, wie Du Dich dadurch weiter entwirrst und entfaltest. Wenn es sich für Dich richtig anfühlt, ist es Dein Weg.
Liebe Grüße aus Würzburg,
Dorothea.
Lieber Matthias,
wie durch einen Zufall habe ich kürzlich meine Austrittserklärung gefunden, es ist nun schon 21 Jahre her. Auch wenn ich es damals eher aus finanziellen Gründen getan habe und der Überzeugung, dass die katholische Kirche durch meine ausbleibenden Beiträge nicht gleich zur Armenkirche mutiert, so bin ich dadurch nicht materiell reicher geworden, aber ganz definitiv emotional. Es war damals ein notwendiger Schritt, den ich bis heute nicht bereue. Es gibt hier zu Landenahezu keine Ortschaft, die nicht mit einer Art Kirche ausgestattet ist. Und, wie selbstverständlich, steht selbige immer im Zentrum. Allgegenwärtig und quasi nicht zu übersehen. Diese Aufdringlichkeit spiegelt sich dann auch im Innenraum wieder: Bei den Katholen pompös und teilweise überfrachtet, wenn es denn eine alte Kirche ist, bei den Evangelen eher leer und monoton, aber immer mit dem symbolisch erhobenen Zeigefinger. Es hat bei mir eine kleine Weile gedauert, bis ich wieder eine Kirche betreten habe. Heute ist das betreten eher so, wie das Besichtigen eines Rathauses oder eines Heimatmuseums. Wenn ich rein gehe bin immer wieder beeindruckt, was die Baumeister und Handwerker damals alles haben herstellen und bauen können. Und genieße an heißen Tagen die kühle des Raums und manchmal auch die Stille.
Paß auf Dich auf,
lieben Gruß
Clemens