Stille

Mit dem fortschreitenden Alter bin ich deutlich empfindlicher geworden, was Geräusche angeht. Ein vor dem Hause laufender Dieselmotor stört mich extrem, mindestens genauso, wie der Laubbläser oder der abendliche Rasenmäher der Nachbarn. Die Beschallung beim Einkaufen empfinde ich als Belästigung und die scheinbar fröhlichen Moderatoren im Autoradio als Zumutung, zusätzlich zu der angebotenen Musik. Vom Gedudel im Fahrstuhl mal ganz abgesehen.

Dann merke ich, dass ich eher die Stille suche. Ich habe sie erlebt, als ich in den USA wandern war. Es war wirklich dunkel, was ja in unserem Land meistens nicht vorkommt, und völlig ruhig. Es gab keine Häuser und daher auch keine Laubbläser, es fuhren keine Autos und es liefen keine Maschinen. Ich erlebte einmal den starken Kontrast, als der Weg eine sechsspurige Autobahn kreuzte und der Lärm und der Geruch der Abgase mir kurz den Atem nahm. Damals bin ich ziemlich schnell aus dieser Situation geflüchtet.

Andererseits war es auf dem Weg natürlich auch nicht still. Es gab ja vor allem viel Wind, aber auch Insekten und ganz selten Vögel, einmal sogar eine Klapperschlange. All das habe ich nie als akustische Belästigung erlebt, jedoch war es keine Stille. Und doch war es seltsam beruhigend und entspannend. Heute bin ich mit dem Fahrrad an der Etsch entlang gefahren (ich bin gerade beruflich in Verona). Neben dem Wind wurden alle Geräusche von den Zikaden übertönt. Manche Menschen bezeichnen das als Krach. Für mich gehört das Geräusch nach Südeuropa und ist ein echtes Sommergeräusch, welches ich sehr liebe.

Wenn ich an einem Bach lebe, dann empfinde ich das immerwährende Plätschern des Wasser nicht als Belästigung. Eher hat es etwas Beruhigendes, wie das Rauschen der Wogen am Meer. Das monotone Geräusch der Grillen und Heuschrecken gehört zu Wiese oder Waldrand und das Rauschen der Bäume ist die akustische Manifestation des Waldes. Das Geräusch des Regens hat schon immer für mich etwas Beruhigendes gehabt. Und so gehören die Zikaden für mich zum Sommer im Süden.

Alle diese Geräusche wird wohl niemand als Stille bezeichnen. Oder vielleicht doch? Ich tendiere dazu! Irgendwie haben sie alle gemeinsam, dass ich dabei innerlich still werden kann, mich auf mich selbst konzentriere und abschalten kann. Heute saß ich länger auf einer Bank an der Etsch und erlebte diese Art von Stille, deren Genuss nur manchmal durch das störende Martinshorn der italienischen Krankenwagen beeinträchtigt wurde. Gerne hätte ich mich auf der Bank ausgestreckt und die Augen geschlossen. Sicher wäre ich eingeschlafen – bei dem, was manche Menschen als Krach bezeichnen, den ich so nicht empfinde.

Für mich ist es irgendwie eine Stille im übertragenen Sinn, ähnlich dem Summen des Ventilators bei Nacht oder dem Plätschern des Baches vor meinem Haus. Vielleicht ist in diesem Sinn die meinerseits gesuchte Stille nichts anderes, als die Abwesenheit menschengemachter Geräusche.

Stille

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