Ich bin in einem wunderschönen Sommerhäuschen eines Freundes in Wannsee, am Rande von Berlin, fast schon in Babelsberg. Noch bin ich nicht aufgestanden. Durch die bis zum Boden reichenden Fenster kommt das fahle Morgenlicht großzügig in den Wohnraum, wo der Ofen in Betrieb ist, ich kann vom Bett aus den Widerschein des Feuers sehen und höre das Bullern der Flammen. Draussen ist es ziemlich kalt, der Himmel ist grau und der Nebel liegt in den hohen Kiefern, die hier rund herum stehen und deren Erscheinungsbild mir so vertraut ist. Ich bin hier in Berlin, wo ich einmal zu Hause war, in meiner Heimat. In meiner Heimat?
Gestern habe ich meine Schwester besucht. Sie wohnt seit einigen Jahren wieder in Berlin, diesmal in Spandau. Ich hatte drei volle Bananenkisten mitgebracht, in denen ich ihr die fotografische Familiengeschichte übergeben würde, die ich vollständig beim Tod meiner Mutter geerbt hatte. Damals war es mir sehr wichtig gewesen, diese teilweise vollkommen ungeordnete Sammlung von Alben und losen Fotos zu erben, auch aus echtem Interesse an der Fotografie und den darin enthaltenen Spuren der Vergangenheit. Bilder aus dem neunzehnten Jahrhundert, von Menschen, die ich gar nicht kennen gelernt habe, von denen manchmal nicht einmal mehr der Name in Erinnerung geblieben ist. Fotos aus einer längst vergangenen Zeit, die bisweilen in den kleinen, liebevollen Details in den Bildern wieder lebendig wird und mit meiner Familiengeschichte verbunden ist. Alte Fotoalben in einzelnen Blättern, denen der Krieg und die Vertreibung unschwer anzusehen sind. Schwarzweißbilder mit erheblichen Schäden…
Zusammen haben wir dann die vielen Alben ins Regal gestellt und soweit geordnet, dass eine Chronologie gegeben ist und die beiden Stränge der Herkunftsfamilien ordentlich getrennt sind, wie meine Schwester es gerne wollte. Dann sind wir die losen Bilder durchgegangen, um eine Übersicht über die vielen Menschen zu haben, die es einmal gab und gleichzeitig zu versuchen, in den Gesichtszügen junger Menschen die Personen wieder zu entdecken, die wir noch als alte Menschen kennen gelernt haben. Und neben dem häufigen Niesen wegen des Staubs merkte ich, dass mich etwas zunehmend nieder drückt.
Es ist scheinbar für mich unmöglich, mit meiner Schwester zusammen zu sein, ohne dass die familiäre Vergangenheit einen großen Raum in unserem Gespräch einnimmt. Ungezwungen und von den alten Geschichten unbelastet scheint bei uns nicht zu gehen. Gestern kamen wir auf einen früheren Nachbarn, mit dem sie kürzlich Kontakt hatte und der noch alte Fotos von der Straße hatte, in der wir geboren wurden. Davon ausgehend haben wir uns gemeinsam in Google-Streetview diese Straße angesehen, wie sie heute aussieht und wie sich unser Geburtshaus verändert hat. Und wie ein deutliches Zeichen, dass ich mich von diesem Thema auf Distanz halten sollte, erfolgte ein kapitaler Absturz meines Rechners. So ähnlich bin auch ich einmal abgestürzt, nachdem ich ein längeres Telefonat mit meiner Schwester über Begebenheiten unserer Kindheit geführt hatte. Das war im letzten Frühjahr, als ich zum ersten Mal in der Klinik in Uffenheim war. Damals verlor ich alle Körperwärme, lag paralysiert und unfähig zu irgend einer Aktion stark frierend im Bett und brauchte drei Stunden, bis die Wärme langsam zurück kehrte und ich mich in der Lage fühlte, mich wegen Hilfe an die Pflege im Haus zu wenden.
Und dann gibt es diese Träume. Von unserem Geburtshaus, einem vierstöckigem Wohnhaus in einer verkehrsreichen Straße in Berlin-Lichterfelde, habe ich öfters geträumt. Und in diesen Träumen herrschte immer das Grauen. Einmal konnte ich von der Straße aus durch das dritte und vierte Stockwerk bis ins Dach schauen, als wäre das Haus ausgebrannt (wir hatten im obersten Stock gewohnt). In einem anderen Traum war im Nebenhaus ein Mensch gewaltsam ums Leben gekommen und auf dem Bürgersteig vor dem Haus stand ein Tisch mit einem Kondolenzbuch. Ich setzte mich an diesen Tisch, um mich in dieses Buch einzutragen. Neben diesem Tisch stand eine männliche Person in einem sehr feinen, grauen Anzug. Und ich schrieb: Auch ich komme aus einer Familie, in der psychische, physische und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung waren. Weiter schrieb ich, dass der fehlende Respekt zwischen den Menschen die Ursache für diese Gewalt sei, und während ich das schrieb, spreizte sich das Schreibwerkzeug immer weiter auf, bis es den Charakter eines dürren, drahtigen Pinsels in halbrunder Form erhalten hatte und mir das Schreiben damit immer schwerer fiel. Und der Mensch im grauen Anzug fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte, worauf ich sagte, dass ich Hilfe hätte…
Ich habe zwei ganze Tage gebraucht, um mich von diesem Traum zu erholen. Und mein Therapeut sagte später, als ich ihm von diesem Traum berichtete, dass ich darin zum ersten Mal eingestanden hätte, wie es in meiner Kindheit wirklich gewesen wäre. Aber das Grauen ist geblieben und begleitet mich ganz oft, wenn ich hier im Südwesten von Berlin unterwegs bin, wo ich früher mit dem Fahrrad fuhr und mir alles vertraut war. Dunkle Straßen mit nur wenigen Straßenlaternen im Nebel, die öden Flächen, wo früher die Mauer stand, verfallende Industriebauten – in all dem fühle ich bodenlose Einsamkeit, große Angst, Gefahr und Bedrohung: Lebensgefahr! Ich versuche es zu verstehen, aber es gelingt mir nicht – und ich kann nicht trennen zwischen Gefühlen aus der Kindheit und einem Bedrohungsgefühl, wie es vielleicht Menschen in der Nazizeit erlebten, die sich im Gegensatz zum Regime befanden. Das habe ich gar nicht erlebt und doch schwingt etwas davon mit, wenn ich hier unterwegs bin und auf Spuren der Vergangenheit stoße. Und die Familienfotos…
Ich hatte, ausgelöst durch die therapeutische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, schon mehrfach daran gedacht, den gesamten Bestand der Familienfotos zu verbrennen, wie in einem Ritual der Befreiung. Nun kam der PCT und der wohltuende Wunsch nach Verkleinerung meines Besitzes gerade recht. Und damit die Idee, mich von den Fotoalben zu befreien, indem ich sie an meine Schwester abgebe. Nun sind bereits zwei ganze Regalbretter in meiner Wohnung leer, befreit von einer Altlast. Es ist richtig und fühlt sich gut an – und doch haben die Bilder noch immer einen Wert und eine Bedeutung für mich, sollten als Gesamtwerk zusammen gehalten werden. Es ist schwer, sie loszulassen – eben weil es nicht nur Bilder sind, sondern weil eine ganze Geschichte daran hängt. Nämlich meine eigene!
Wenn ich heute nach Würzburg zurück fahren werde, verbinde ich damit auch eine Vorfreude, eine Erleichterung, trotz des schönen Sommerhäuschens, in dem ich gerade bin und die Wärme des Ofens und das Alleinsein genieße, trotz der guten Freunde, die ich hier in Berlin weiß und der schönen vertrauten Momente, die wir zusammen erleben. Ich lasse etwas hier. Und freue mich darauf, irgendwann einmal zurück zu kommen, ohne diese alte Last wieder zu spüren. Und bis dahin meine eigene Heimat zu finden, wo auch immer.