Zeit

„Ich hatte keine Zeit“ oder auch „…dafür hat die Zeit nicht gelangt“ – solche und ähnliche Aussagen kennt sicher jeder aus seinem Alltag. Oftmals scheinen sie mir hilflose Ausreden zu sein, um zu erklären, warum das Eine oder Andere liegen geblieben oder vergessen worden ist. Sicher wäre es dann richtiger und ehrlicher, wenn man sagte: „Es war mir nicht so wichtig, ich habe mir dafür keine Zeit genommen“ oder “ Ich habe meine Zeit falsch eingeteilt“. Somit übernähme man die Verantwortung für die Einteilung seiner Zeit.

Natürlich ist die nutzbare Zeit oft begrenzt, auch wenn alle Menschen immer vierundzwanzig Stunden zur Verfügung haben. Aber die Arbeit, der Schlaf und der Betrieb des eigenen Lebens nehmen sehr viel davon in Anspruch, den Rest jedoch gilt es gut einzuteilen und auf die Dinge hin zu fokussieren, die wirklich wichtig sind im Leben. Was das ist, entscheidet jeder selbst.

Ich habe gerade mehr Zeit, als ich benötige. Im Gegenteil: es fehlt mir die Arbeit, das Fahren mit dem Reisebus. Ich gehöre sicher zu den Menschen, die die Arbeit auch als Gerüst für die Tagesgestaltung brauchen und sehr viel Bestätigung daraus ziehen. Seit mein neuer Job am Mittwoch begonnen hat, sitze ich zu Hause, da alle Busreisen bundesweit untersagt sind. Wann es wieder anders werden wird, steht noch immer in den Sternen. Und so habe ich meine vierundzwanzig Stunden, von denen der Schlaf und der reduzierte Betrieb meines Lebens abgehen. Da bleiben viele Stunden übrig, und ich merke, dass ich aufpassen muss, sie ein bisschen zu strukturieren und einigermaßen sinnvoll zu nutzen, damit ich nicht völlig aus dem Tritt gerate.

Es ist nicht so, dass ich mich langweilen würde oder nichts zu tun wüsste. Aber es sind eben auch Dinge, die eher eine Option sind, also nicht wirklich wichtig sind. Ich könnte sie machen….: Die Steuererklärung, das Digitalisieren alter Negative, verschiedene Dinge bei Ebay zu verkaufen versuchen und vieles andere mehr. Aber das Fehlen von Druck lässt mich schläfrig werden, zögerlich im Angehen dieser Sachen, die mich sicherlich zufrieden machen würden, wenn ich sie erst erledigt hätte. Was bin ich froh, dass ich keinen Fernseher habe, der es mir so leicht machen würde, mich abzulenken von den Dingen, die ich endlich tun könnte, würde ich meine Zeit nutzen.

Wenn ich in diesen Tagen draußen unterwegs bin (wir in Baden-Württemberg dürfen das noch), sehe ich vermehrt vor Häusern große Berge von alten Möbeln, Sperrmüll und den typischen Gegenständen, die in Kellern gehortet werden, weil „noch keine Zeit war, sie zur Deponie zu bringen“. Jetzt ist plötzlich der Moment da, wo diese Ausrede entfällt und offensichtlich viele Menschen die Zeit sinnvoll zum Entrümpeln nutzen. Es sind teilweise riesige Berge, die dort auf die Abholung warten, und auch die Geschäftsleute, deren Geschäft ja zumeist geschlossen ist, stellen Unmengen alter Regale, Dekoartikel und anderes, nicht mehr brauchbares Zeug vor die Tür. Alle nutzen nun die Zeit mit etwas, was sie sicher schon lange vor sich her geschoben haben, immer mit dem Hinweis auf die „fehlende“ Zeit.

Auch diese Vergnügung entfällt bei mir. Ich habe das vor drei Jahren so intensiv betrieben, dass ich nun nichts mehr habe, was ich eventuell zur Deponie bringen könnte. Ich habe sehr nachhaltig aufgeräumt, meinen Besitzstand erleichtert und dafür gesorgt, dass meine jetzige Wohnung freien Raum anbietet und eine angenehme Leere hat, ohne dabei unwohnlich zu wirken. Im Gegenteil: Meine Besucher empfinden den dadurch frei gewordenen Raum immer als sehr inspirierend, meist im Kontrast zu ihren eigenen Wohnungen.

Und doch bleiben mir so viel schöne Dinge, die ich auch tun kann. Es ist wunderbar, wieder vermehrt mit Menschen zu kommunizieren, die ich schon lange nicht mehr gesprochen habe. Den Frühling und den derzeit sensationellen Sonnenschein könnte ich so intensiv in mich auf nehmen, wie ich es mir seit Jahren wünsche. Ich könnte auch mal wieder ungestört Musik hören, auch wenn der CD Player noch immer defekt im Schrank steht. Und ich könnte die Meditation endlich wieder beleben, die ein bisschen eingeschlafen ist, seit ich wieder in Arbeit bin. Ich hatte mir einfach dafür keine Zeit mehr genommen, immer war etwas anderes wichtiger. Ich hatte immer gute Ausreden…..

Jetzt habe ich Zeit im Überfluss. Ich will sie nutzen und ihre Fülle genießen – als etwas, was vielleicht in diesem Umfang nicht wieder vorkommen wird.

 

Zeit

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