Aufbruch

„Eine Veränderung kann manchmal so schleichend sein, dass man den Unterschied erst merkt, wenn sie vollzogen ist.“  (George Monroe im Film: Das Haus am Meer)

 

Vielleicht denke ich ja zu viel, aber ich versuche oft, mich über die Bestandteile eines Wortes seiner Bedeutung zu nähern. Was also ist ein Aufbruch? Ich erlebte einmal des Nachts das Aufbrechen eines Wasserrohres. Es war ein großes Wasserrohr unter der Straße. Das Brechen des Rohres geschah geräuschlos, nur das Rauschen des hervortretenden Wassers war zu hören und doch veränderte sich in Minutenschnelle die Gegend, das Wasser spülte den Sand in Form eines breiten, schmutzig-braunen Baches hinweg, unterhöhlte den Asphalt und führte dazu, dass die Straße unpassierbar wurde. Auch im Frühling, wenn die Knospen aufbrechen – es verändert die Welt, indem sie von kargem Braun zu leuchtendem Grün verwandelt wird. Und es geschieht lautlos und verändert eben doch elementar. Im Aufbrechen steckt also die Veränderung.

So ein Tag auf einem Weg – wie ist er zu charakterisieren? Ich stelle mir vor, ich stehe am Morgen auf und verlasse den Ort, an dem ich übernachtet hatte, mit dem sicheren Wissen, dass ich an diesen Ort nicht mehr zurück kommen werde. Mit vielen, möglichst festen Schritten begebe mich auf einen Weg, den ich noch nicht kenne. Und ich weiß auch noch nicht, wo ich am Abend übernachten werde. Aber der Ort der Übernachtung ist das Ziel des Tages, der Weg führt dorthin. Und so wird der einzelne Tag zu einem kleinen Abbild des gesamten Weges, der damit beginnt, dass ich etwas zurück lasse, was vergangen ist – was ich nicht mehr brauche. Was werde ich zurücklassen, wenn ich mich real auf den Weg mache?

Heute ist ein komischer Tag. Seit Wochen hatte mein Telefon zu Hause keinen Ton mehr von sich gegeben, der sich im weiteren Sinn mit meinem Beruf als Fotograf und den daraus resultierenden Tätigkeiten in Verbindung bringen ließe. Dagegen rief ausgerechnet heute ‑ ich bin seit einem Tag in einer psychosomatischen Klinik ‑ ein Kunde an, der interessiert war, sich fotografieren zu lassen, gleichzeitig bekam ich eine Anfrage wegen eines Schülerpraktikums. Bei beiden Telefonaten habe ich nach kurzem Zögern gesagt, dass die Zeit für mich als Fotograf vorbei ist und dass ich mich in einer Klinik befinde. Beide Menschen haben sofort sehr viel Verständnis gezeigt, es hat sich gut angefühlt, mit ihnen zu reden, auch wenn ich ihr Ansinnen ablehnen musste. Ich habe dabei gemerkt, wie sehr ich des Berufs überdrüssig geworden bin, wie es für mich deutlich spürbar ansteht, etwas Neues zu tun, auch wenn ich noch nicht weiß, was das sein wird.

Als ich mich heute in einer Gruppe vorgestellt habe, sagte ich, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben: In meinem früheren Leben war ich Fotograf! Das habe ich vorher noch nie gesagt, noch nicht einmal reflektiert gedacht. Es kam einfach von innen, hat mich in der Überraschung über mich selbst etwas geschockt und gleichzeitig mit einem Gefühl inneren Friedens erfüllt, weil es sich genau richtig angefühlt hat. Es war, als ob ich den Weg bereits begonnen hatte, ohne es selbst gemerkt zu haben. Es war lautlos geschehen! Ich bin auf einem neuen Weg, den ich beginne, indem ich etwas Altes, was nicht mehr benötigt wird, zurück lasse. Heute habe ich den Eindruck, dass das auf jeden Fall der alte Beruf sein wird, auch wenn ich noch immer in der Lage bin, zu sehen und vom Wahrgenommenen qualitativ und gestalterisch gute Bilder zu machen – eben das, was ein guter Fotograf nach meinem Verständnis tut. Ich weiß noch nicht, wie der Weg verläuft, wie steil er sein wird und ob sehr viel Geröll auf mich wartet, das ich versuchen muss, unbeschadet zu überwinden. Und wie oft ich auf dem Wegstück stürzen werde und mir die Knie aufschlage. Aber ich weiß, ich werde an einem Ort ankommen, an dem ich übernachten werde, ohne zu wissen, wo und wie der Ort sein wird.

Ich bin aufgebrochen. Eine Veränderung kann manchmal so schleichend sein, dass man den Unterschied erst merkt, wenn sie vollzogen ist….

 

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2 Gedanken zu „Aufbruch

  • 29. November 2016 um 7:18 Uhr
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    Lieber Matthias, ich bin beeindruckt und freue mich sehr, dass du einen weg aus dem dunkel gefunden hast! Wow. Mehr dann persönlich! Glg Christine

    Antworten
  • 9. November 2016 um 16:11 Uhr
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    Lieber Matthias, wir kennen uns nun schon ein paar Jahre und ich kann nur endlich, endlich, ja, das könnte der richtige Weg sein. Veränderungen sind schleichend und sie wollen erkannt werden. Was Du gerade tust. Ich kann nur ein kleines Gedicht Hilde Domin anfügen, das mich schon lange begleitet:
    Nicht müde werden
    sondern der Hoffnung
    ganz leise
    wie einem Vogel
    die Hand hinhalten

    Auch das, tust Du, Du hast Dich niemals aufgegeben!

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