In meinem Bücherregal steht ein Taschenbuch, das ich sehr mag. Es ist vom Autorenduo Heidenreich/Schröder geschrieben und erzählt liebevoll von einem älteren Paar und ihren täglichen Diskussionen. Er ist bereits in Rente und sie steht kurz davor. In einem Kapitel besucht er eine Lesung, die sie organisiert hat. Und er erzählt, dass er schräg hinter einer fremden Frau saß, die ihm aufgrund ihres roten Pullovers und ihrer Frisur aufgefallen war. Je länger er sie von hinten betrachtete, umso mehr stellte er sich vor, wie sie wohl von vorn aussehen würde. Und das Bild von ihr wurde in seiner Phantasie immer schöner und reizvoller, sodass er sich vorstellte, sie nach Ende der Veranstaltung eventuell anzusprechen.
Als es dann soweit war und er sie zum ersten Mal von vorne sah, war er entsetzt. Sie wirkte auf ihn missgelaunt, unzufrieden und mürrisch, hatte ein schiefes Gesicht und schien sich selbst eher zu vernachlässigen. Und der Kontrast zu dem Bild, das er sich im Kopf von ihr gemacht hatte, ließ ihn von der möglichen Kontaktaufnahme Abstand nehmen.
Ähnliches habe ich auch schon erlebt. Die eigene Phantasie ist etwas tolles, nur kann die Realität damit oftmals nicht Schritt halten. Und doch ist es ein reizvolles Spiel. Bedingt durch die im Bus zu tragenden Masken spiele ich es derzeit ziemlich oft, auch in Ermangelung einer anderen, sinnvollen Beschäftigung des Denkapparates.
Zwei Dinge sind mir dabei aufgefallen. Wie anders nehme ich zum einen den Menschen wahr, wenn ich nur die Augen sehen kann. Normalerweise habe ich ja noch Nase und Mund dabei, vielleicht die Haut und eventuelle Pickel, schiefe oder gerade gewachsene Zähne, ein breites oder schmales Gesicht und viele andere Eindrücke, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, das mir spontan gefällt oder eben auch nicht. Durch die Masken fällt all das nun weg, es bleiben nur die Augen übrig, wo sonst das Gesicht als Ganzes eine eigene Geschichte erzählen kann. In meinem Kontakt mit meinen Fahrgästen wird mir dadurch auf einmal die Stimme viel wichtiger, um irgend einen Eindruck des Menschen zu erhalten.
Zum anderen fällt mir nun auf, dass viele Menschen äußerst schöne und ausdrucksstarke Augen haben. Ganz besonders fällt mir das bei den Menschen aus Nord-Afrika und dem nahen Osten auf. Ich habe den Eindruck, dass mir das vorher, bei der Fülle der wahrzunehmenden Eindrücke, nie so bewusst geworden ist. Möglicherweise ist es einfach untergegangen. Jetzt fällt es mir dagegen deutlich auf und ich schaue, neben der pflichtgemäßen Kontrolle der Fahrscheine, besonders intensiv in die Augen der Einsteigenden. Vielleicht erzählt ja der Blick, den sie mir zuwerfen, etwas mehr über die jeweilige Person, als es die bauchfreien Oberteile und die übertrieben löchrigen Jeans bei den Schülern tun, die zu hunderten in meinem Bus mitfahren. Oder auch über die müden Menschen, die morgens mit mir zu Ihrer Arbeitsstelle fahren, die älteren Leute, die zum Einkaufen fahren oder auch die diversen Migranten, die häufig im Bus sind. Und es gibt natürlich auch so einige Menschen, die den Blick gar nicht heben.
Manchmal kommt dann die Phantasie wieder ins Spiel. Nach dem Blick in die Augen beginnt in meinem Kopf die Vorstellung, wie ich denn möglicherweise die ganze Person wahrnehmen würde, wenn sie ohne Maskierung wäre. Besonders in der Kombination mit der Stimme ist da einiges möglich. Oftmals höre ich in dem Wirrwarr der verschiedenen Menschen im Bus sogar die Stimmen meiner eigenen Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen, in denen ich sie erlebt habe. Und manchmal passiert es dann tatsächlich wie in der oben beschriebenen Geschichte. Nach dem Ausstieg wird die Maske abgenommen und ich kann in die Gesichter sehen. Ganz oft ist es dann eine Enttäuschung, wenn das eigene Phantasiegebilde schlagartig zusammenbricht. Aber manchmal….
So hat die an sich lästige Maske auch etwas gutes. Sie lenkt den Blick viel stärker als vorher auf die Augen, die ja, wie der Volksmund sagt, das Fenster zur Seele sein sollen. Ich schaue gerne durch diese Fenster. Und freue mich sehr, wenn ich mehr entdecken kann als den Eindruck von Leere, Langeweile und Gleichgültigkeit.
Mir machen die Masken in meinem Beruf zunehmend immer mehr Probleme. Ich muss ca. 200 unterschiedliche Menschen mit Namen kennen und sie natürlich auch voneinander unterscheiden. Schwierig wird es, wenn ich nur Frisur und Augen kenne. Mit abnehmenden Temperaturen ist es sogar so, dass sich mir die jungen Menschen in Mantel und Mütze präsentieren (ich arbeite meistens bei offenem Fenster, um den Aerosolen zu ermöglichen, sich aus dem Raum nach draußen „zu verabschieden“. Dann bleiben mir nur noch die Augen, um die Menschen zu identifizieren. Selbst die Stimme klingt unter der Maske etwas anders. Ich bin leider ein „Augenmensch“ und brauche das Gesicht.
Wenn ich dann doch mal jemanden ohne Maske sehe, bin ich tatsächlich meistens überrascht, manchmal auch irritiert.
Dennoch … Maske auf für die Gemeinschaft, das gebietet der Respekt und die Vernunft.
…. manchmall kann man in den Augen ein Lächeln entdecken – und manchmal ziehe ich die Maske kurz nach unten um mein Lächeln zu zeigen!