Es gibt immer wieder Momente, in denen ich von mir selbst überrascht werde. Ich versuche stets, sie wahrzunehmen und dann zu akzeptieren, was ich da spüre und erlebe. Beispielsweise war mir nie bewusst, dass ich ganz gut schreiben kann. Jedoch bekomme ich es immer wieder bestätigt, besonders von Menschen, die das auch deswegen beurteilen können, da sie sich selbst mit Sprache befassen. Es überraschte mich sehr, denn ich hatte nie das Gefühl, dass meine Texte gut geschrieben sind. Ich hatte ja nur aufgeschrieben, was ich gedacht hatte. Und in der Schule galt ich immer als Niete, nicht nur in Deutsch.
Nun jedoch überrascht mich etwas anderes. Es ist nicht neu, dass ich eine große Traurigkeit mit mir herumtrage. Ich spüre sie beim Abschied nehmen, was ich in den letzten Tagen oft getan habe. Sie haben aber nun eine veränderte Qualität, diese Abschiede. Sie sind heftiger, gehen tiefer und schmerzen mehr, obwohl sie ja nicht mehr Endgültigkeit haben, als vorherige Abschiede auch. Besonders fiel es mir auf, als ich mich von Barbara und Michael in Wolfenbüttel verabschiedet habe. Wir haben uns bislang oftmals ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Und länger wird es diesmal auch nicht sein. Und trotzdem war es ganz anders als sonst, ich kann es auch gar nicht besser beschreiben. Oder ist es so, dass ich durch das Bewusstsein des bevorstehenden Weges dieses Mal die Momente davor viel intensiver erlebte und mir dadurch der Abschied schwerer fällt?
Und noch etwas ist mir aufgefallen: Es macht mir viel mehr aus, als ich von mir gedacht hätte, in einen Zustand zu kommen, in dem ich keine Wohnung mehr habe. Es ist ein Gefühl, als ob ich den Boden unter den Füßen verliere und ins Bodenlose falle. Es macht Angst und steigert die Traurigkeit enorm. Als ich in der Therapie darüber sprach und wir die Situation analysierten, fiel mir auf, dass dieses Gefühl mit dem schlimmsten Erlebnis meines Lebens verbunden ist.
Damals wollte ich zu Hause ausziehen, um dem Krieg zwischen meinen Eltern zu entkommen. Den Interessen oder Wünschen meiner Mutter lief das zuwider, welche Absichten auch immer dahinter standen. Und um mich für mein Ansinnen angemessen zu bestrafen, kannte sie mich vom gleichen Augenblick nicht mehr. Zwei Wochen lang war ich in ihren Augen nicht mehr existent, sie kochte nicht mehr für mich, meine Wäsche wurde nicht mehr gewaschen, ich war Luft für sie und beim Mittagstisch war kein Gedeck mehr für mich vorgesehen. Ich wurde bestraft, indem ich aus der Sicherheit der Gemeinschaft ausgestoßen wurde (bei anderen Familien würde man hier vielleicht eher das Wort Geborgenheit verwendet haben). Ich fiel emotional ins Bodenlose und es ist genau diese Szene, die mein Trauma geworden ist und mit der ich bis heute ringe.
Meine heutige Situation ist natürlich ganz anders. Es ist nichts wirklich Bodenloses daran, ich habe noch immer die Kontrolle, und alle Vorbereitungen für meinen Weg gehen voran, mal etwas besser und manchmal eher schlecht. Meine Sachen sind weitgehend sortiert und die Wichtigen sind eingelagert. Dabei habe ich die ursprüngliche Vision exakt umgesetzt und meine Planung scheint nicht die schlechteste gewesen zu sein. Folglich ist die Szene meiner Jugend mit der aktuellen Situation nicht vergleichbar. Ich habe sie selbst so geschaffen und gewollt – und genau deswegen bin ich so erstaunt über meine eigene Reaktion. Es ist das kleine Kind in mir, das so heftig gegen den Eindruck rebelliert, ins Bodenlose zu fallen und ausgegrenzt zu sein. Die alte, kindliche Angst hat sich ganz leise angeschlichen und mich in einem Moment erwischt, als ich nicht darauf vorbereitet war.
Möglich wäre es, dass es am Übergang liegt, in dem ich mich gerade befinde: zwischen „geordneten Verhältnissen“ und einem Leben als Wanderer. Vielleicht überrasche ich mich damit, dass ich in vierzehn Tagen gar nicht mehr darüber nachdenke, weil ich mit der wenigen Ausrüstung, die ich auf dem Rücken trage, wunderbar ausgestattet bin. Vielleicht ist der Rythmus der Schritte dann eine ganz unerwartete Stabilisierung? Möglicherweise erlebe ich erst dann die Erleichterung über die aufgegebene Wohnung, die sich momentan nicht so recht einstellen will.
Ich bin ganz gespannt, welche Überraschung über mich selbst als nächste ansteht.