Brief an Irene

Liebe Irene,

ich sitze hier in ziemlicher Höhe im Schatten eines der wenigen, größeren Büsche. Es ist 3:00 Uhr nachmittags, es ist keine Wolke am Himmel und der Wind weht in heftigen Böen, was das Laufen in der Sonne erträglich macht, auch wenn mir jetzt gerade Sandkörner ins Gesicht fliegen. Ohne den Wind möchte ich hier heute nicht gehen müssen.

Ich habe deinen Kommentar zum Vertrauen gelesen. In vielem erkenne ich mich wieder, das ging mir schon so, als du den Beitrag zu den Fragen kommentiert hast. Nun möchte ich dir darauf antworten.

Ich erkenne in vielem von dem, was du beschreibst, unsere familiäre Tradition wieder. Soweit ich es sehe, ist es eine Tradition, in der von Gegenüber grundsätzlich erst einmal das Schlechteste angenommen wird. Wir haben in unserer Kindheit Vertrauen nicht erlebt und somit auch nicht gelernt. Wir haben auch nicht erlebt, dass ein Mensch uns wohl gesonnen sein kann, wenn wir einmal unser Herz ausschütten mussten. Es fehlt bei uns so vieles an sozialer Kompetenz, die bei anderen Menschen ganz selbstverständlich ist. Und ich spreche nur für mich, wenn ich sage, dass mich noch heute eine Zuwendung an mich, welcher Form auch immer, jedes Mal aufs Neue erstaunt. Das kann eine Gratulation sein, ein Geschenk, ein liebevoller Brief oder auch eine Umarmung. Gerade die Umarmungen habe ich jetzt jahrelang vermisst, bei denen ich mich gehalten und völlig angenommen fühle.

Es ist nicht an mir, dein Denken oder fühlen verändern zu wollen. Aber ich möchte mich ändern! Genau von dieser, mit negativem Vorzeichen behafteten Denkart möchte ich loskommen. Es kann sein, dass die Amerikaner grundsätzlich ein bisschen oberflächlich sind. Was sie aber auf jeden Fall sind, zumindestens die, die ich hier erlebt habe: Sie sind hilfsbereit! Und es geht oftmals überhaupt nicht um irgend einen Nutzen, den sie davon haben, sie verschenken Dinge, die die Wanderer brauchen können und helfen, wo sie können.

Heute erlebte ich einen Fernfahrer, der am Sonntagfrüh an einer Brücke half, Frühstück für die Wanderer zu machen, dann eine Fuhre von sieben Wanderern in die zwölf Meilen entfernte Stadt fuhr, eine Stadtführung machte und uns zweieinhalb Stunden später wieder zur Brücke zurückfuhr, an der der Weg weitergeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Deutschland irgend jemand täte.

Natürlich verstehe ich, dass du es nach schlechten Erfahrungen nicht so leicht hast, das Gute in den Menschen zu sehen. Ich jedoch lerne hier, dass es viele Menschen gibt, die Gutes tun, ohne groß zu fragen. An diesem Beispiel möchte ich mich orientieren und davon lernen. Ich möchte mich trennen von dieser alten Sehweise auf die Welt. Sie gehört zu den Dingen, die zurückzulassen ich mir vorgenommen habe. Im Grunde genommen habe ich seit Jahren nur daran gelitten und damit positive Erfahrungen verhindert!

Ohne dich zu belehren, oder auch nur ansatzweise belehren zu wollen, wünsche ich dir den Mut, die schlechten Erfahrungen zu akzeptieren und trotzdem zu versuchen, die Welt ein bisschen anders zu sehen. Ich glaube, sie ist viel besser, als wir bisher gedacht haben. Und ich danke dir sehr für deine Sorge um mich. Dies hatte ich nicht erwartet, aber es freut mich und rührt mich sehr.

Alles Gute für dich vom windigen, schattigen Berg in Kalifornien.

Matthias

Brief an Irene

2 Gedanken zu „Brief an Irene

  • 24. April 2017 um 23:10 Uhr
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    Ich denke Michael hat Recht, es gibt solche Menschen auch hier, es kommt immer darauf an, ob man sie sieht – und man sieht in der Regel immer durch die Brille, die man geradue auf hat.

    Aber es stimmt auch, dass Amerikaner – so war meine Erfahrung – in aller Regel grundsätzlich offnener sind, als Deutsche. Ich weiß nicht, ob das damit zusammen hängt, dass das Land, jenseits der großen Städte, halt doch verdammt dünn besiedelt ist und damit ein sich verlassen können auf den anderen, bzw. umgekehrt dem anderen Hilfe anbieten, wichtiger ist, als in einem derart dicht besiedelten Land, wie Deutschland.
    Das Gleiche habe ich vor über 20 Jahren das erste Mal selbst erlebt als ichmit einem Freund mit dem Rucksack in der Ägäis unterwegs war….je kleiner die Inseln und je abgelegener und dünner besiedelt, desto größer, herzlicher und unvoreingenommener die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Menschen.Mich hat das damals schwer beeindruckt und auch nachhaltig geprägt in meiner zu dem Zeitpunkt doch sehr eingeschränkten „Land-Ei“ Einstellung auf die Welt.

    Bei mir hat seit der Zeit erstmal jeder einen Vertrauensvorschuss, den er sich verspielen kann. Das kann man gerne naiv nennen, denn natürlich fällt man damit auch mal auf die Nase – aber wegen dem einem mal auf die Nase fallen die tollen neunzehn schönen Erfahrungen missen? Niemals wieder.

    Ich hoffe, dass Dich diese Erfahrungen ähnlich prägen und öffnen. Es ist einfach schön mit einem positiven und hilfsbereiten, offenen Herzen durch die Welt zu gehen.
    Mir ist das so wichtig geworden, dass ich einmal eine fast drei Jahre dauernde Beziehung beendet habe, da mir die misanthrope, grundsätzlich erstmal vom Schlechten beim anderen ausgehende Einstellung meiner damaligen Partnerin nicht mehr erträglich war.

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  • 24. April 2017 um 1:29 Uhr
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    Lieber Matthias,
    doch, es gibt sie auch in Deutschland … diese Menschen die einfach helfen, ganz ohne wirtschaftlichen Nutzen, einen persönlichen Nutzen hat man durch die eigene Hilfsbereitschaft ganz automatisch. Wir dürfen sie nicht vergessen, alle die Menschen, die sich in den letzten vielen Monaten einfach und spontan auf den Weg gemacht haben und den vielen Flüchtlingen igeholfen haben, die in unserem Land Unterschlupf suchten. Fremdartigkeit bzw. Andersartigkeit ist schließlich keine Bedrohung sondern eine Chance. Es sind die Momente die eine Gesellschaft so menschlich werden lässt und es ist glücklicherweise auch ein deutsches Phänomen.

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