Ein kleiner Sieg

In den letzten dreißig Jahren habe ich sie immer wieder umgezogen, bei jedem Wohnungswechsel suchte ich einen Platz für sie. Aufgrund der Länge war es schwierig, sie in einer Umzugskiste unterzubringen, das ging nur diagonal und nahm auf diese Weise viel Platz in Anspruch. Wenn es dann ans Auspacken ging, stellte sich für mich immer wieder die Frage, wohin damit. Meist landete sie dann quer liegend im Schrank, wo doch auch dort nicht wirklich Platz im Überfluß herrschte. Wegen der Feuchtigkeit konnte ich sie ja nicht im Keller lagern. Danach war sie vergessen, bis ich zum nächsten Mal wieder die Umzugskisten packte. Ich wusste, was darin war, machte aber keinen Gebrauch davon.

Es war eine Versandhülse aus starkem Karton. Darin, in Seidenpapier verpackt, der Schmuckmeisterbrief, den ich auf der festlichen Veranstaltung im Oktober 1992 erhalten habe. Damals verpackte ich ihn in diese von der Handwerkskammer angebotene Transporthülse. Und er ist nie mehr aus dieser Verpackung herausgekommen.

Oft sehe ich in Handwerksbetrieben an der Wand verschiedene Urkunden und Zertifikate hängen. In Filmen aus Amerika sieht man das oft, meist hinter dem Schreibtisch in schönen Rahmen, damit die Person am Schreibtisch gleich mit all den Erfolgen assoziiert wird, wenn man vor dem Schreibtisch steht. Ich kenne dafür die Bezeichnung „Ego-Wand“. In Mitteleuropa hängt dort meist, besonders in alt eingesessenen Familienbetrieben, der Schmuckmeisterbrief des Vaters oder des Großvaters. Mir fällt auf, dass das Format immer größer wird, je jünger diese Urkunden sind. Sie sind dort ordentlich gerahmt und in der dezenten, von mir als gelungen empfundenen Gestaltung immer ein Blickfang. Ich sehe sie mir gerne an, lese das Datum der Ausstellung und fühle mich mit dem Geehrten verbunden. Wir haben die gleiche Prüfung bestanden.

Der mir übergebene Schmuckmeisterbrief dagegen war in meinen Augen protzig und gestalterisch misslungen. Das fing schon bei dem unmöglichen Format Din A2 an. Viel zu groß für die meisten Wände und ziemlich teuer bei der eventuellen Rahmung. Die Verwendung bunter Farben wirkte nicht harmonisch, sondern eher aufdringlich und mit wenig Stil. Er erinnerte mich immer wieder an eine DLG-Urkunde für eine besonders gelungene Leberwurst, die man bisweilen in einer Metzgerei an der Wand hängend sehen kann. Von Anfang an fand ich ihn hässlich und war mir sicher, dass er bei mir nie an der Wand hängen würde.

Aber wozu hebe ich ihn dann auf? Er ist kein Dokument, denn das Meisterzeugnis, der Meisterbrief, ist ein Zeugnis ähnlich dem alten, grauen Führerschein und in genau dem selben Material und Format. ‚Aber so etwas hebt man doch auf‘ höre ich die inneren Stimmen sagen. ‚Für Deine Kinder, Deine Erben, die freuen sich sicherlich darüber…‘. Meine Kinder wollen keinen Kontakt mit mir, und allein die Größe des „Schmuckstücks“ spricht gegen irgendeine Nutzung in ferner Zukunft, durch wen auch immer.

Und so stand ich zum wiederholten Mal mit der Papphülse in der Hand und überlegte, wo sie denn diesmal ihren Platz bekäme, von dem aus sie das nächste Mal erneut den Weg in eine Umzugskiste finden würde. Und zum wiederholten Mal fragte ich mich, warum ich etwas aufhebe, das ich nicht brauche, das mir nicht gefällt und das ich nur behalte, weil die inneren Stimmen aufgrund fremder Werte aus ferner Vergangenheit das von mir erwarten.

Und dann erlebte ich für mich einen kleinen Sieg. Ich packte den Schmuckmeisterbrief aus der Hülse und entfernte das Seidenpapier. Dann nahm ich eine Schere und zerschnitt mit einem gewissen sadistischen Wohlbefinden den übergroßen Karton mit all seinen bunten Farben und der Schrift, die mir einst das Recht zusprach, mich Meister nennen zu dürfen. Die Hülse, die wirklich sehr stabil war, gab erst auf, als ich mich mit dem ganzen Gewicht darauf stellte. Und damit meine Entscheidung auch gleich eine Endgültigkeit bekam, trug ich alles zusammen sofort in die Papiertonne.

Auch wenn es mir vorher nicht bewusst gewesen war, erlebte ich diesen Moment als eine Befreiung. Ich bin froh, dass ich mich endgültig von etwas getrennt habe, das nicht mehr zu mir gehört, zu mir nicht mehr passt. Vielleicht hat dieser Schmuckmeisterbrief noch nie zu mir gepasst?

Ein kleiner Sieg

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