Alter Zopf

Ich ärgere mich über mich selbst. Nein, eigentlich ist es kein richtiger Ärger, eher bin ich verwundert über mich. Und ich staune, dass eine Erkenntnis, über die ich hier und anderswo schon so oft gesprochen und geschrieben habe, es so schwer hat, im Herzen anzukommen.

„In meinem früheren Leben bin ich mal Fotograf gewesen….“ sagte ich in großer Runde zu meiner damaligen Oberärztin. Und ich war dann ganz erschrocken über diesen impulsiv ausgesprochenen Satz und seine gewaltige Bedeutung. Nach einer Weile  kam ich zu der Erkenntnis, dass dieser Satz in ungefilterter Klarheit genau meine Gefühle wiederspiegelte und eine Tatsache schaffte, wo ich bis dahin nur etwas geahnt und geglaubt hatte. Und als ich dann, in der Vorbereitungszeit für den PCT, all meine Besitztümer in Frage stellte, schuf ich gleichzeitig Fakten, indem ich mein Gewerbe abmeldete und mich von vielem trennte, was zur Ausübung des Fotografenberufs erforderlich war.

Und doch kam der Fotograf immer wieder zur Sprache, wenn es im Rahmen von Gesprächen beim Arbeitsamt oder dem Jobcenter um Bewerbungen ging. Mit meiner eher speziellen Qualifikation bleiben nicht so viele Möglichkeiten außerhalb des Berufs übrig, sodass ich mich immer wieder um Arbeitsstellen als Fotograf bewarb, bewerben musste. Mindestens drei Bewerbungen pro Monat musste ich schreiben, so schrieb es die Vereinbarung mit dem Jobcenter vor. Und natürlich tat ich es – denn ein Verstoß gegen diese Vereinbarung kann zur Kürzung von Hartz IV-Leistungen führen. Und so viel ist es ja nun nicht….

Aber eigentlich war der Fotograf ja Vergangenheit. Und mein Bestreben geht zur Zeit viel mehr in die Richtung, mit einer Förderung durch das Jobcenter die Fahrerlaubnis für Busse zu erwerben und zukünftig beruflich auf der Straße unterwegs zu sein. Und nun erhielt ich, nach vielen Absagen auf meine diversen Bewerbungen, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für eine Tätigkeit, bei der es um die fotografische Dokumentation von Ausgrabungsstätten, Fundstücken im Boden und ähnlichen Dingen geht. Die Bezahlung wäre halbwegs ordentlich gewesen, dazu eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst mit geregelten Urlaubszeiten, Weihnachtsgeld und der entsprechenden Sicherheit. Mich brachte das in einen ziemlichen Zwiespalt: Will ich das eigentlich noch und muss ich das tun? Im Sinne meiner amtlich vorgeschriebenen Bemühungen um eine feste Arbeitsstelle hätte ich müssen, auch ohne innere Überzeugung. Es waren keine leichten Tage für mich, denn die neue, für mich noch ungewohnte, positive Weltsicht aufgrund eines neuen Ziels bekam durch den Widerstreit in mir einige Risse.

‚Sie könne nur eines von Beidem unterstützen‘, sagte meine Betreuerin vom Jobcenter, als ich am Freitag endlich zu einem Gespräch bei ihr war. Und ich legte ihr dar, dass es für mich keinen Zweifel gäbe, dass die Zeit als Berufsfotograf vorbei sei und es statt dessen in Richtung Führerschein geht. Nachdem wir das erörtert hatten, machte sie den Weg frei für die Förderung dieser Umschulung und gab mir den Rat, mir den Stress des Vorstellungsgesprächs mit der Anfahrt nach Bonn nicht mehr zu machen, sondern mich auf das neue Ziel zu konzentrieren.

Als ich danach nach Hause kam, war mir klar, dass ich schnellstens zum Telefonhörer greifen sollte, um meine Teilnahme am Vorstellungsgespräch abzusagen. Nur ein kurzer Anruf! Und doch fand ich jede Menge anderer Erledigungen, die ich als Grund vorschieben konnte, um nicht anrufen zu müssen. Irgendetwas war auf einmal riesig groß und hinderte mich daran, das Vorstellungsgespräch abzusagen. Und ich verstand mich selbst nicht mehr. Hatte ich nicht oft genug gesagt, dass für mich die Zeit des Fotografen vorbei war? Was war dann so schwierig, die eigentlich doch bereits getroffene Entscheidung in die Tat umzusetzen? Warum musste ich all meinen Mut zusammen nehmen, um das Gespräch abzusagen und die Fahrkarte für die Bahn zu stornieren? Als ich gründlich darüber nachdachte und meine Gefühle zu verstehen versuchte, wurde mir klar, dass es eine klare, eindeutige Entscheidung war, vor der ich mich fürchtete. Der Verstand war bereits viel weiter als das Gefühl. Das Gefühl hängt nämlich noch immer an diesem Beruf, den ich einmal gelernt habe und den ich auch eine ganze Weile sehr gerne ausgeübt habe. Zudem wirken noch immer die Stimmen, gegen die zu bestehen für mich noch immer schwer ist und die mir dauernd mit veralteten Wertmaßstäben einzureden versuchen, dass es nicht akzeptabel ist, den einmal begonnenen beruflichen Weg zu ändern und die auf vermeintlicher Sicherheit bestehen, die es ohnehin nicht gibt.

Und dann, als ich bereits hoffte, durch das frühe Arbeitsende am Freitag niemand mehr am Telefon zu erreichen, schaffte ich den Anruf doch noch. Ich gebrauchte eine Ausrede und sagte das Vorstellungsgespräch ab, danach stornierte ich die bereits gebuchte Fahrkarte. Dadurch machte ich es unabänderlich. Die Zeit des Fotografen ist vorbei.

Ich schnitt einen alten Zopf ab.

Alter Zopf

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