In diesem Jahr bin ich etwa 2500 Kilometer gelaufen. Darin sind die täglichen Strecken gar nicht enthalten, die im Verlauf von normalen Tagen anfallen, es sind nur die Distanzen, die ich auf dem PCT und dem GR 65 zurückgelegt habe. Und es geht auch gar nicht um die Höhe der Zahl!
Zwei Wege, die ich gegangen bin! Der Umfang war bei beiden fast gleich, und doch sind sie sehr unterschiedlich. In Frankreich zu laufen war viel leichter, denn es ging immer wieder durch Ort, es gab Läden und Cafes, und die Übernachtungen in den diversen Gites waren meist durch das zusätzlich angebotene Abendessen recht bequem. Und auch wenn ich im Zelt übernachtet habe, so war doch die Bevorratung mit vernünftigem Essen nie ein Problem. Auch gab es keine Schwierigkeiten mit der Versorgung mit Trinkwasser, zumal ich auch den Wasserfilter vom PCT dabei hatte. Einmal habe ich sogar, als ich das Gefühl hatte, dass es knapp werden könnte, an einem Haus geklingelt und darum gebeten, meine Flaschen auffüllen zu dürfen.
Die ganze Ausrüstung war ja PCT-erprobt, sodass ich hervorragend ausgestattet war. Der ultraleichte Rucksack, das leichte Zelt, der gute Schlafsack, mein kleiner Kocher und das neue Kochset – all das war leicht, sinnvoll zusammengestellt und weitgehend erprobt. Auch das hat das Wandern in Frankreich erleichtert. Ich hatte sogar die gleichen Schuhe, nur eineinhalb Nummern größer, sodass ich keinerlei Blasen bekam. Zudem war ich routiniert beim Packen, Zelten, Kochen und natürlich auch beim Tragen des Rucksacks. Alles war vertraut und fühlte sich richtig an.
Und doch gab es eben viele Unterschiede. Die Sohlen meiner Schuhe sind hinten abgelaufen, fast glatt. Und das, obwohl es doch etwas weniger Kilometer waren, als in den USA. Ich erkläre es mir damit, dass der GR 65 eben doch ziemlich oft auf Asphalt verläuft und dadurch der Abrieb an den Sohlen deutlich heftiger ist. Auf dem PCT gab es quasi keinen Asphalt. Und auch, wenn ich einräume, dass ich vieles Negative von der Wanderung in den USA bereits vergessen habe, so habe ich doch den Eindruck, dass das Laufen in Frankreich meine Beine und Füße deutlich mehr belastet und angestrengt hat. Dafür habe ich keine andere Erklärung, aber vielleicht ist auch hier der Hinweis auf den Untergrund relevant. Und dank des regelmäßigen Essens habe ich nicht viel abgenommen – wenn überhaupt!
Ich wollte den GR 65 gehen. Mein Ziel war es, von Genf bis St. Jean Pied de Port zu kommen. Es hätte passieren können, dass ein Vorstellungsgespräch in Berlin mich zum Abbruch zwingen würde, das trat aber nicht ein. Und ich habe nur einen Ruhetag eingelegt, nach 24 Tagen ununterbrochenen Wanderns. Kurz vor Schluss des Weges waren es drei Tage, die ich zum Besuch von Elke und Tobi in Château d’Orion genutzt habe. Und die restlichen 35 Kilometer, die ich danach noch, innerhalb von zwei Tagen, bis St. Jean laufen musste, waren kein Problem mehr, obwohl die Beine durch die Pause nicht wirklich erholt waren. Eigentlich sind es ganz andere Dinge, die mir wichtig erscheinen. Es sind Vorgänge in mir, die mir bemerkenswert erscheinen.
Die Wanderung auf dem PCT war etwas so überaus Großes, weil damit mein persönlicher Aus- und Aufbruch verbunden war. Wie Christine einmal zutreffend in einem Kommentar vermutete, war die Zeit vor dem Beginn der Wanderung die Wichtigere. Die Entscheidung zum Aufbruch war entscheidend, das Lösen von der Wohnung und die Trennung vom Beruf und vielen anderen, materiellen Dingen – all das hatte mit Angstbewältigung und ganz viel Mut zu tun. Die Wanderung war danach quasi die Kür, nachdem die Pflicht abgearbeitet war. Und für mich war das alles ein so unglaublich großer Schritt, dass der PCT innerlich wie glorifiziert, mystisch überhöht war. Und damit einher ging die Erwartung an mich, dass aus dem Ganzen auch etwas ebenso Großes werden müsste. Ich musste mindestens an der kanadischen Grenze ankommen. Umso schlimmer war dann das Wegbrechen des Glorienscheins, der Verlust der inneren Stimmigkeit mit der Wanderung, während des Laufens durch Schnee und Wasser in der High Sierra. Und entsprechend schwer wurde es, mir das selbst ein- und zuzugestehen und die Konsequenz daraus anzunehmen. Das zu schaffen war dann, soweit ich sehe, wieder ein großer Erfolg für mich.
Dagegen war der GR 65 nur ein Wanderweg. Gegen die Bezeichnung als „Jakobsweg“ sträube ich mich immer, denn ich sehe darin wieder eine Mystifizierung, die ich für mich nicht will. Ich hatte ihn schon lange einmal laufen wollen und habe es genossen, das Land ganz abseits von den üblichen, touristischen Attraktionen kennenzulernen. Zudem habe ich, trotz meiner minimalen Sprachkünste, schöne Begegnungen mit Menschen in Frankreich gehabt. Merkwürdigerweise habe ich viel weniger Angst vor den Sprachproblemen gehabt als vor Beginn des PCT, obwohl mein Englisch sicher deutlich besser ist als die „drei Worte Französisch“, die ich ohne Stottern hinbekommen. Ich wollte einfach wieder wandern und unterwegs sein – und das habe ich gemacht, ganz ohne Glorifizierung. Von einem von mir festgelegten Anfangspunkt bis zu einem von mir geplanten Endpunkt. Die emotionale Wichtigkeit hatte etwas ganz Normales: ein Vorhaben mit einem Ziel. Nichts weiter.
Wie wäre es heute, wenn ich die Wanderung auf dem PCT erneut angehen würde? Klar, ich wäre viel routinierter, wüsste bereits im Vorfeld, auf was ich mich einlasse und hätte sicher auch eine bessere Planung zustande gebracht. Aber auch, wenn ich es nur vermuten kann: Durch das Fehlen der Mystifizierung des Weges wäre es ein deutlich leichteres Vorhaben. Es wäre dann nur ein Vorhaben mit einem Ziel. Es wäre leichter, dieses Ziel anzustreben, weil es nicht soviel bedeuten würde, wenn es nicht klappen würde. Ich würde genauso laufen, wie in Frankreich, wo ich mit der maximalen Tagesleistung von 44 Kilometern noch etwas über meiner Maximalleistung vom PCT lag. Ich wäre gelassener! Das schlechte Wetter, von dem ich in Frankreich deutlich mehr abbekommen habe, würde mich vielleicht nicht so bedrücken. Wenn ich es mir gerade versuche vorzustellen, so glaube ich, dass ich viel leichter laufen würde, quasi vor der Last des Glorienscheins und den daraus resultierenden Erwartungen an mich befreit.
Vielleicht ist das auch ein Erfolg eines Weges, den ich gegangen bin?