Verantwortung

Ich hatte mir einige Worte zurecht gelegt. Mit meinen geringen, französischen Sprachkenntnissen hatte ich die notwendigen Worte zusammengesucht, zu halbwegs vertretbaren Sätzen geformt und soweit geübt, dass ich sie glaubte aussprechen zu können. Soweit vorbereitet und doch etwas nervös ging ich ins Rathaus. Sofort kam mir eine freundliche Französin entgegen und fragte mich etwas. Und dann sagte ich, was ich sagen wollte: “ ich habe zwei Probleme. Das erste Problem ist, dass mein französisch sehr schlecht ist. Das zweite Problem ist schwarz und weiß und steht vor ihrer Tür.“

Es war ein schwarz-weißer Hund. Dieser Hund war mir im Dorf Uzan zum ersten Mal begegnet. Er kam auf mich zu, sichtbar ohne Herrchen. Und meine Ängste gegenüber Hunden wurden spürbar aktiviert. Also ließ ich ein barsches „Husch“ los, worauf der Hund von mir Abstand nahm und ich einfach weiter ging. Ich sah ihn aber noch mehrfach in diesem Ort, wie es auch bei anderen Menschen Kontakt suchte. Als ich den Ort durchquert hatte, war er wieder vor mir. Von da an lief er ungefragt mit mir – und das bei meiner negativen Einstellung Hunden gegenüber!

Er hatte offensichtlich beschlossen, ebenfalls den GR 65 zu laufen und dabei mich als sein Herrchen ausgewählt. Ich konnte ihn einfach nicht mehr loswerden. Blieb ich stehe, so stoppte er etwa 20 Meter vor mir und blickte zu mir, bis ich weiter ging. Dann sauste er gleich weiter, immer wieder seitwärts schnuppernd. Vieles, was ich nicht roch, schien für ihn brennend interessant zu sein, war aber nicht so wichtig, als dass er es riskiert hätte, mich zu verlieren.

Entnervt hielt ich im nächsten Dorf an und machte eine Rast. In dieser Zeit erkundete der Hund die Gegend und freundete sich mit einem anderen deutschen Pilger an, der ihn sogar streichelte. Und ich dachte bei mir: gut so, lauf doch mit dem einfach weiter. Und als ich dann fertig gegessen hatte und weitergehen wollte, wünschte ich dem Landsmann viel Spass mit dem Hund. Etwa hundert Meter und zwei Abbiegungen weiter war der Hund wieder bei mir.

Beim Weitergehen redete ich mir ein, dass ich ja nichts für die Situation könne, sie nicht verursacht hätte und daher auch nicht verantwortlich sei. Ich wollte einfach laufen und mich nicht kümmern müssen. Aber ich konnte ihn nicht loswerden. Als er begann, den Abstand zu mir zu vergrößern, verfiel ich in meiner Hoffnung auf die Idee, stehen zu bleiben, wenn er mich nicht sehen konnte, und mich zu verstecken. Ohnehin war er, soweit ich gesehen hatte, falsch abgebogen… Zwei Minuten später kam er schauen, wo ich denn geblieben wäre. Natürlich fand er mich sofort.

Und so ging es weiter. Ich erlebte, wie er von diversen Hofhunden angekläfft wurde. Jedesmal sträubte sich sein Fell und er suchte mit eingezogenem Schwanz das Weite – und meine Nähe. Ich hörte sein Winseln vor lauter Angst und er tat mir leid. Dazu sah ich, wie er angstvoll, aber im Wortsinn, einen Bogen um Menschen machte, sich aber auch zusehends für nicht ganz geschlossene Mülltonnen interessierte. Und ich wollte doch nur laufen und nicht zuständig sein. Ich dachte noch: Vielleicht kann ich ihn müde laufen! Tatsächlich häuften sich die Situationen, dass er sich hinlegte, wenn ich stehen blieb. Aber sobald ich wieder lief und in seine Nähe kam, sprang er auf und lief vor mir her, während die Tropfen in weiten Bögen von seinen Beinen flogen. (Ich vergaß zu berichten, dass es drei Tage lang nur geregnet hat…).

Und dann passierte es: der Weg würde eine Art Bundesstraße kreuzen! Und da merkte ich, dass ich doch eine Verantwortung hatte. Ich wollte es nicht erleben und quasi mitschuldig sein, dass der Hund aus der Nase blutend tot aus der Straße liegt. Aber wie stoppt man ein Tier, welches mutmaßlich Kommandos in einer fremden Sprache gewohnt ist, die ich dazu auch nicht kenne. Ich habe verschiedene Worte ausprobiert, aber ohne Wirkung. Dann bedauerte ich, dass ich keine Schnur dabei hatte, ich hätte jetzt den Hund sogar angefasst, um ihn anzuleinen! Aber ich hatte nichts. Und so wartete ich in Sorge auf eine große Lücke im Verkehr, machte dann heftige Armbewegungen und ging zügig über die Straße. Das klappte, wir beide kamen heil auf die andere Seite. Und so ging es weiter. Wann immer wir auf der Straße liefen und ein Auto näherte sich, machte ich Handzeichen, um die Geschwindigkeit zu verringern und die Aufmerksamkeit auf die Existenz des nicht zu kontrollierenden Tiers zu lenken. Auch das hat funktioniert.

Mir grauste aber vor meinem Zielort Arthez, den ich mir groß und belebt vorstellte. Und am Anfang des Ortes gleich ein Kreisverkehr. Das haben wir auch überlebt, und als wir die Hauptstraße herunter gingen, habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Denn eigentlich war schon für Fußgänger kein ausreichender Platz. Und so war ich froh, das Rathaus erreicht zu haben. Als ich durch die Aussentür eintrat, untersuchte der Hund noch die Umgebung. Als ich mit der freundlichen Französin an der Innentür stand, wartete der Hund bereits an der Aussentür. Und so ließen wir ihn in den Zwischenbereich, sowohl zu seinem Schutz als auch als Sicherheit gegen spontanes Weglaufen. Und dann beratschlagten wir, als wir unversehens Unterstützung von zwei weiteren französischen Pilgerinnen bekamen, die ich bereits aus verschiedenen Gites kannte.

Die drei Frauen gingen mit Energie und rasend schnell gewechselten französischen Worten ans Werk. Die eine organisierte aus Beständen des Rathauses ein Seil, dass sich bestimmt auch zum Erhängen eignen würde. Dieses befestigte sie am Halsband des Hundes und erlebte einen wirklich netten Hund, der menschlicher Nähe und Zuwendung dringend bedurfte. Und er hatte auch gar kein Problem damit, nun an der Leine zu laufen, als die beiden Frauen sich auf den Weg zum Veterinär machten – und ich mich von der Verantwortung frei fühlte. Ich sah ihnen nach, wie sie gemeinsam die Hauptstraße hinuntergingen. Er sah sich nicht ein Mal nach mir um….!

Und nun wollt Ihr wissen, wie es weiter ging? Der Hund wurde bereits gesucht und stammte aus einem Ort vor Uzan. Das hat sich alles beim Tierarzt herausgestellt, eine vorbeikommende Frau kannte ihn und er sie…..oder so ähnlich. Die  Geschichte ändert sich im Verlauf des Nachmittags, je öfter sie von irgend jemandem erzählt worden ist. Und vielleicht habe ich auch mangels Sprachkenntnissen nicht alles richtig verstanden. Insofern bin ich nicht sicher, ob sich alles wirklich so abgespielt hat. Jedoch sicher ist, dass der Hund wieder zu seinem Besitzer zurück kommt. Und im Grunde ist es auch egal.

Denn ich fand meine Reaktion bemerkenswert und das ist auch der Grund, warum ich sie hier erzähle. Ich habe auf einmal gemerkt, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Und ich merkte meine Angst, dass dem Hund etwas passieren könnte, obwohl er nicht mein Hund ist und ich eigentlich nicht zuständig bin. Ich fühlte mich verantwortlich. Eigentlich bin ich dankbar über diese Reaktion. Sie erscheint mir positiv, besonders, wenn ich sie in Gedanken auf Menschen anwende, besonders in Situationen, in denen sie bedroht oder belästigt werden. Gleichzeitig habe ich aber auch die Last gespürt, die damit einher geht. Und dann habe ich in der letzten Nacht von dem Hund geträumt. In dieser Situation war es mein Hund geworden. Ich weiß nicht mehr, um was es gegangen ist, aber es ist das Gefühl geblieben, das es etwas Schönes war.

Der Hund hat mich bereichert. Er hat mir etwas Wertvolles vor Augen geführt, was ich in mir habe. Ich bin ihm dankbar, dass ich das durch ihn und mit ihm erlebt habe.

Verantwortung

2 Gedanken zu „Verantwortung

  • 4. Oktober 2017 um 22:24 Uhr
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    Hunde sind Rudeltiere, und der Hund hat Dich zumindest vorübergehend zum Rudelführer erwählt.
    Aber ich denke – so schätze ich Dich zumindest ein – Du bist nun froh, Deinen Weg wieder alleine gehen zu können.

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  • 4. Oktober 2017 um 20:44 Uhr
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    Eine sehr schöne Geschichte! Vieles erinnert mich an die Verhaltensweisen meines Hundes Balu! Und als ich ihn im Tierheim abgegeben habe, hat er sich auch nicht umgewandt oder zu mir zurück geblickt, sondern blickte nur in seine neue Zukunft. Ist das vielleicht ein Vorbild für Dich?

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