Ich saß im Café in Aubrac, es war am vergangenen Donnerstag. Vor mir ein Café au Lait, den mir der sichtlich etwas überforderte, ältere Herr gebracht hatte, der hier den Tresen hütete. Mit der großen Anzahl von Wanderern hatte er wohl nicht gerechnet, seine nicht Multi-Tasking fähige Art, die einzelnen Bestellungen abzuarbeiten, ehe er eine neue Bestellung aufnehmen konnte, strengte mich schon beim Zusehen an.
Der Kaffee war ja eigentlich auch nur ein Alibi gewesen. Eigentlich musste ich sehr dringend aufs Klo. Normalerweise lasse ich es ja nicht zu, dass es so dringend wird. An diesem Tag jedoch regnete es draußen stark, bei böigem Wind, der dafür sorgte, dass die Regentropfen fast horizontal kamen und sich wie Eis im Gesicht anfühlten. Dazu lagen die Wolken auf der Hochebene auf. Kein Wetter, um seine Bedürfnisse an der frischen Luft zu erledigen. Das Café in Aubrac kam also gerade recht und noch rechtzeitig.
Und so saß ich nun mit meinem Kaffee allein am Tisch und betrachtete die vielen Pilger, die, wie ich, das Trockene und die Wärme suchten und den Boden des Cafés in ein unüberschaubares Meer an Pfützen verwandelten, übrigens sehr zum Verdruss des besagten älteren Herrn, der die Pilger jeweils einzeln aufforderte, die nasse Bekleidung doch bitte im Vorraum auszuziehen und dort zu lassen.
Und mir fiel auf, dass ich jeden eintretenden Wanderer anschaute und auf seine „Tauglichkeit“ als Gesprächspartner hin taxierte. Dabei merkte ich, dass ich keinen Menschen als für mich und meine Bedürfnisse passend empfand. Ich wollte keinen von ihnen an meinem Tisch haben und war froh, dass auch niemand diese Eingebung hatte. Ehe noch jemand auf diese Idee hätte kommen können, bezahlte ich und machte mich wieder auf den nassen und windigen Weg und verzichtete daher auch auf den überaus lecker aussehenden Kuchen mit roten Früchen, der dort angeboten wurde.
Ich merke, dass ich den Menschen aus dem Weg gehe. Wie bisher laufe ich fast immer allein. Und muss mir eingestehen, dass mir ganz viele Menschen sehr schnell auf die Nerven gehen. Ich ertrage sie selten längere Zeit. Irgendwie bin ich mit den meisten Menschen nicht kompatibel. Gleichzeitig gibt es die große Sehnsucht, dazuzugehören, ein Teil einer wohltuenden Gruppe zu sein. Die Sehnsucht nach Familie und Partnerschaft gehört dazu, nach dem, was ich mit Ankommen zu beschreiben versuche. Wie aber sollte das funktionieren, wenn mir die Menschen so schnell auf die Nerven fallen? Ist unter diesen Vorzeichen ein Ankommen überhaupt möglich?
Der Weg: Ist er vielleicht doch eine Flucht? Ich laufe meine fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer am Tag und der Weg hinterlässt nur sehr wenige Eindrücke. Es geht über Wiesen und durch Wälder, ich sehe Rinder, Pferde und Esel und komme durch Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Schritt für Schritt geht der Weg unter mir hinweg. Er hat kein wirkliches Ziel, statt dessen ist er sein eigener Sinn.
Vor sehr vielen Jahren – ich lebte damals noch in Berlin in meiner Herkunftsfamilie – sagte einmal mein Onkel zu mir: Ihr seid alle Entwurzelte! Hatte er damals – in visionärer Hellsichtigkeit – exakt mein aktuelles Problem beschrieben, das mich nicht zur Ruhe kommen lässt und immer wieder auf den Weg treibt? Das mich den Beruf eines Kraftfahrers oder Lokführers anstreben lässt, nur um weiterhin unterwegs, auf der Flucht zu sein? Weil es so vertraut ist, allein zu sein?
Oder vor was bin ich dann auf der Flucht, wenn es die Menschen nicht sind? Und wie finde ich das heraus?
Lieber Matthias! Es ist wirklich faszinierend! Das, was Du von Onkel Wolfgang geschrieben hast, war gestern, als ich Lothar und Birgit in Hamburg traf, genau mal das Thema. Mit genau diesem Zitat. Er scheint es also öfter gesagt zu haben – und ich vermute stark, dass er sein eigenes Entwurzeltsein aus seiner Heimat allen um sich herum übergestülpt hat. Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eine unzulässige Vereinnahmung ist. Von mir kann ich nicht sagen, ich sei auf der Flucht. Dazu müsste ich mich von etwas bedroht fühlen, dem ich entkommen muss. Anders verhält es sich seltsamerweise mit dem Entwurzeltsein: seit ich aus Schwante weggehen musste, habe ich das Gefühl, keinen richtigen Bodenkontakt mehr zu haben, der offenbar für mich wichtig ist. Das führt dazu, dass ich begonnen habe, über meine Wohnrealität nach meiner Arbeitszeit in sechs Jahren nachzusinnen. Ich warte mal ab, wohin „es“ denkt. – Als ich Deinen Text las, kam mir irgendwie das Bild eines Joggers vor das Auge – die machen manchmal auch einen gehetzten – flüchtenden – Eindruck. Aus Gesprächen erfuhr ich allerdings, dass solche Läufer oft laufen, um „den Kopf frei zu kriegen“. Vielleicht ist das ja für Dich die Lösung, vielleicht brauchst Du das auf andere Weise auch und musst es nur in den Tagesablauf integrieren.
Ich wünsche Dir noch viele schöne Eindrücke auf Deiner Wanderung durch Frankreich. Mit lieben Grüßen
Irene
Hallo Matthias,
Es wäre schön, wenn wir uns nach Deiner erneuten Wanderung in Deutschland mal wieder sehen könnten. Vielleicht gehen Dir vertraute Menschen nicht so auf den „Senkel“. Melde Dich doch mal bei mir.
Liebe Grüße
Norbert
Lieber Matthias,
ich fürchte, ich bin der falsche, Dir diese Fragen zu beantworten. Ich denke, ein Psychiater wäre da eine gute Adresse. Wenngleich der vermutlich von Dir fordert, Du mögest es doch bitte selber rausfinden. Du könntest es mal mit Hypnose versuchen oder Du fragst mal, Du wirst es nicht gerne lesen, einen Geistlichen.
Im Grunde kannst Du es nur so machen, wie seinerzeit mit dem Magnetangelspiel. Du wirfst Deine Angel in tiefes, dunkles Wabern und hoffst, beim rausziehen wird die richtige, alles erleuchtende Antwort dran hängen.
Also, auch wenn ich Dir vielleicht nicht wirklich helfen kann, so kann ich Dir sagen, dass Du nicht der einzige Mensch bist, dem es so geht, die meisten wissen es nur nicht oder wollen es sich nicht eingestehen. Es gibt sicher einige Menschen, mit denen Du kompatibel bist, ob es aber die richtige Zeit oder der richtige Ort ist, sie zu suchen oder zu finden, ist die Frage.
Es besteht, wo ich grade länger drüber nachdenke, auch eine klitzekleine Möglichkeit, dass dieses Gefühl in uns lebt, weil es uns impliziert wurde, quasi ein Fitzelchen Erbgut, was die schlechtere Variante wäre, als zu glauben, es wäre uns lange genug suggeriert worden, dass wir es in uns einfach nur verinnerlicht haben. Im Ersten Fall müßtest man versuchen, es zu verdrängen und hoffen, dass man es nicht weiter vererbt hat. Im Zweiten Fall sollte man sich einen Ort suchen, an dem man glücklich ist und sich geborgen und angenommen fühlt. Und damit miene ich nicht im Sinne der Zweisamkeit, die ohne Zweifel wichtig ist, aber nicht ausschlaggebend. Einen Ort an dem man sagen kann, hier fühle ich mich wohl, hier will ich bleiben und hier bin ich mit mir im Reinen.
Vor sich wegzulaufen, funktioniert meistens nicht. Man trifft sich am nächsten Ort ja doch wieder und nimmt sich auch immer mit. Solange es keine sichere Operation gibt, den Teil des Gehirns rauszuschneiden, der einem das Gefül vermittelt, auf der Flucht sein zu müssen, ist das keine Option.
Ich hoffe, Dir etwas geholfen zu haben, es gäbe noch mehr, aber das sprengt den Rahmen und möglicherweise meinen Kopf.
Hab eine gute Zeit oder laß es dir gut gehen. Oder beides!
Lieben Gruß
Clemens