Im Verlauf der verschiedenen Klinikaufenthalte habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt. Und auch, wenn wir uns gegenseitig meist andere Absichten erklärten, so haben sich doch die meisten Kontakte verlaufen. Vielleicht muss das so sein, und wahrscheinlich ist es auch in Ordnung. Ganz wenige sind mir geblieben und für alle bin ich dankbar, auch wenn wir uns selten sehen oder hören.
Von diesen lieben Menschen lebt eine in der Schweiz, nämlich Conny. Wir haben uns vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen, schreiben uns aber noch immer Mails. In letzter Zeit vor allem in Form von Audio-Nachrichten, was besonders schön ist, weil ich dabei ihre Stimme und den liebevoll gepflegten schweizer Dialekt hören kann. Und ich behaupte, dass wir uns noch immer fast ohne Worte verstehen.
Und eigentlich finde ich Kosenamen, Spitznamen oder Verkürzungen von Namen immer noch befremdlich und lehne sie ab. Auch auf dem PCT habe ich mich stets gegen einen Trailnamen gewehrt, immer natürlich im Rahmen der gegebenen Höflichkeit. Ich fand ihn überflüssig, und es schien mir auch nicht zu mir zu passen, wollte ich mich doch selbst finden und mich nicht hinter einem anderen, neuen Namen verstecken.
Conny hat mich jedoch gleich mit einem liebevollen Spitznamen bedacht, als wir merkten, dass wir uns gut verstehen: Eagle! Sie sah eine Ähnlichkeit, weniger äußerlich als eher vom Naturell oder der Persönlichkeit her. Und verband mit diesem Vergleich die Aufforderung: Flieg, mein Eagle! Als Adler konnte ich mich nie sehen, konnte es ihr jedoch auch nicht ausreden. Mich mit einem Adler zu vergleichen war, als würde ich mich mit fremden Federn schmücken wollen, als hätte ich eine mit Gold geschmückte Robe, die mir nicht passt. Ich hätte es als Anmaßung empfunden.
Und gerade in den letzten Tagen, die ihren Niederschlag nicht nur beim Wetter, sondern auch in meinem Blog fanden, ging mir dieser Vergleich wieder durch den Kopf. Ist es nicht das Wesen des Adlers, sich frei, eigenständig und in großer Höhe zu bewegen, niemand anderem verpflichtet als sich selbst und dem Aufwind, der ihn trägt? Der seine eigenen Kreise dreht und die Weite des Raums völlig selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt? Bin ich das oder könnte ich das jemals sein?
Würde ich dieses Bild adaptieren, so wie ich mich bislang sehe, so sähe ich einen großen, eigentlich imponierenden Vogel in der Gefangenschaft einer viel zu kleinen Voliere. Das Federkleid ist durch Autoaggression völlig zerrupft, der sonst eher scharfe Blick ist trübe und das Fliegen in der Weite des Himmels ist einem kläglichen Hopsen gewichen, sowohl der Enge des Raumes als auch dem Mangel an Übung geschuldet. Es hat nichts von dem scheinbar stolzen Vogel, der in den Lüften unterwegs ist, weit weg von den Menschen.
Gerade bei den aktuellen Überlegungen, wie ich die sich mir bietende Freiheit nutzen könnte oder möchte, drängt sich dieses Bild auf. Genauso fühle ich mich: ungeübt in der freien Gestaltung des Lebens und dem Nutzen einer Freiheit, die in diesem Umfang für mich vielleicht noch nie vorher existiert hat. Aus dieser Erfahrung ist eine innere Enge entstanden, die ich in ihrer Auswirkung jetzt zum ersten Mal wahrnehme. Es ist kein angenehmes Gefühl, sie zu erleben. Und doch bin ich dankbar, so klar sehen zu können: mit den Augen des Adlers. Und vielleicht schaffe ich es, die virtuellen Eisenstangen des Gitters als das zu sehen, was sie sind: als etwas, was ich selbst als meine Begrenzung akzeptiert habe und was ich nun ändern kann.
Ich sollte es tun, möglichst bald. Und wieder lernen zu fliegen!
Kleiner und großer Adler…geh wieder Fliegen….geh auf deinen Weg und finde Dich weiter. Aber versauere bloss nicht in einem 9/5 Job…DAS würde DICH nur unglücklich machen!!!! Sei mutig, hab Vertrauen zu Dir!
Lieber Matthias,
ein Adler ist selbst unter den Greifvögeln etwas Besonderes. Meinen wir. Er selbst hinterfragt sich nicht, er ist.
Du aber bist Mensch und mit Freiheit haben wir normalerweise nicht viel zu tun.
Deshalb, so denke ich, hast Du zur Zeit einen besonders schweren Job, der seine Zeit braucht. Federn müssen wachsen. Fliegen lernen ist anstrengend und braucht einen guten Startplatz.
Wenn Du wissen willst, wie lange Du Dich ausruhen und auf dem auf dem Boden bleiben darfst, frage nicht die Eisenstangen.
Es ist eine Ehre und Freude, wenn ein Wesen freiwillig kommt und bleibt. Gerade eines, das man besonders wertschätzt wie beispielsweise eine Katze, einen Adler oder einen Matthias. Und er ist jederzeit wieder willkommen auf den Boden, Deinen Menschen, die Du Freunde nennst. Wahr. Da bin ich sicher.
Ich denke an Deinen Beitrag ‚Yellow Ribbons‘, auch an den letzten Absatz.
Vertrau‘ Dir. Und sei lieb zum Kleinen.
Karin