Spiegel

Es ist nicht immer leicht, das anzunehmen und zu akzeptieren, was man im Spiegel sieht. Zumindest geht es mir so. So war es zum Beispiel in Hikertown. Ich stand nach dem Duschen in einem schmuddeligen, mit sehr abgenutztem Teppichboden ausgelegten Bad, das sicherlich schon viele Hiker gesehen hatte. Ich starrte in das Spiegelbild und war befremdet von dem Menschen, den ich dort sah. In der etwas abgemagerten Version war er mir fremd, der Körper dazu unnatürlich bleich gegenüber den gebräunten Armen und Beinen. Dazu eine verwilderte Frisur und ein Bart, den es in dieser Länge bislang auch noch nicht gegeben hatte. Die Bräune im Gesicht kaschierte die Müdigkeit nur dürftig. Insgesamt eben ein müder Wanderer.

Mir geht es oft so, dass ich mein Spiegelbild nicht besonders mag. Das liegt natürlich daran, dass ich vor meinem geistigen Auge ein anderes Bild von mir habe, welches mit meinem Spiegelbild nicht überein stimmt, wenn ich es dann sehe. Und doch zwingt mich der Spiegel immer wieder, das anzunehmen, was ich von mir sehe. Ich kann es ja auch nicht ändern.

So hat das Spiegelbild eine wichtige Funktion. Manchmal übernehmen auch Menschen diese Funktion, ob ich es will oder nicht. So ist es mir kürzlich ergangenen. Und während ich, Schritt für Schritt auf dem Weg voran kommend, darüber nachdachte, welcher Mechanismus da eigentlich abläuft, wurde mir bewusst, dass ich dadurch ungeheuer viel lernen kann.

Es geht um Erwartungen. Und in diesem Fall ganz besonders um Erwartungen Anderer, von denen ich das Gefühl habe, dass sie an mich gerichtet sind. Diese Erwartungen erlebe ich oft als große Belastung, gegen die zu wehren für mir wichtig geworden ist. Dies brachte mich zu der Frage, warum das so ist und was eigentlich dahinter steht.

Und entdeckte beim Nachdenken, das ist der kleine Matthias ist, der sich wehren möchte. Er versucht nämlich, sich von einer Erwartung frei zu machen, die ihn seit seiner Kindheit immer wieder dazu gezwungen hat, seine eigenen Wünsche auf eine freie Gestaltung seines Lebens zurückzustellen. Durch die (in diesem Fall mütterlichen) Erwartungen an ein fehlerfreies Verhalten mit angedrohter Strafe bei Fehlverhalten entsteht so ein großer Druck, dass seine eigene Entfaltung stets auf der Strecke geblieben ist. Die Folge war eine Anpassung an die Wünsche Anderer, die mit zunehmender Dauer des Lernprozesses zu einer Vorauseilenden wurde. Durch diese eingebrannte Erfahrung bekommen Erwartungen von Anderen eine solche Macht, dass sie auch heute noch zu einer großen Belastung werden. Noch immer ist es ein Kampf, sich gegen diese gefühlten Erwartungen innerlich zu wehren. Und oftmals ist vielleicht dem Gegenüber meine Reaktion unverständlich, weil er die Hintergründe nicht sehen kann.

Aber ich kann etwas daraus lernen. Ich kann lernen, dass die Wünsche der Anderen an mich in Ordnung sind, mich jedoch nicht zwingen, sie zu erfüllen. Die Anderen dürfen etwas von mir erwarten, ich jedoch habe die Freiheit, laut und deutlich nein zu sagen und die Erfüllung zu verweigern. Ich kann lernen, frei zu entscheiden, was ich in meinem Leben tun oder bleiben lassen möchte. Zudem kann ich mich davon frei machen, mich durch Blicke, Worte oder Schweigen von anderen Menschen unter Druck setzen zu lassen. Ich muss nichts tun, was ich nicht selbst will. Der elterliche Satz „Will ist gestern gestorben“ darf für mich nicht mehr gelten. Denn „will“ ist gestern nicht gestorben, sondern lebt immer noch weiter!

Und so haben Spiegelungen etwas sehr Positives, auch wenn es nicht leicht ist, es anzunehmen, was ich sehe. Ich hatte das Gefühl, dem anderen Menschen einen Vorwurf machen zu müssen, dass ich seine, mich belastenden Erwartungen an mich fühle. Das ist natürlich Unsinn! Eigentlich muss ich dem Menschen dankbar sein, zu dieser Erkenntnis gekommen zu sein. Durch diese Spiegelung und die Ruhe auf dem Weg, die mir das Nachdenken ermöglicht hat, habe ich ganz viel über mich gelernt. Danke, Karin, für diese Erkenntnis!

Spiegel

Ein Gedanke zu „Spiegel

  • 12. Juni 2017 um 0:05 Uhr
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    Hallo Matthias,
    das ist schon so eine Sache mit den Erwartungen der anderen. In gewissen Bereichen wird man nicht umhin kommen sie zu erfüllen. Aber in den Situationen wo man eine Wahlmöglichkeit hat, sollte man sich dafür entscheiden was man selber will.
    Von Tomy Jaud gibt es das Buch „Einen Scheiss muss ich“ und nur diesen Buchtitel sage ich mir dann in solchen Situationen „Einen Scheiss muss ich“.
    Ich finde es absolut toll, lesender Weise an deinem Abenteuer, deinen Unsicherheiten und auch deinen Ängsten teilzuhaben. Und es ist beeindruckend wie ehrlich du dabei bist. Ich wüsste nicht ob ich in allen Situationen immer so ehrlich zu mir wäre. Mach weiter so, und sei von mir und der Familie ganz herzlich gedrückt. In Gedanken sind wir bei dir.

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