Brief an Caro

Guten Morgen, liebe Caro,

heute will ich den Umstand, früh aufgewacht zu sein und nicht mehr schlafen zu können, einfach nutzen, um Dir endlich ein paar Gedanken zu Deiner Nachricht vom März zukommen zu lassen. Meine damalige Antwort liegt mir derzeit leider nicht vor, sodass ich nicht mehr so genau weiß, was ich damals geschrieben habe (der Rechner ist noch immer eingelagert). So war meine Reaktion sicher von Druck und Stress gezeichnet, die mein Aufbruch und die bevorstehende Auflösung meiner Würzburger Existenz in mir erzeugt haben. Und ganz sicher auch von wieder frisch aufgebrochenen, alten Verletzungen und innerem Schmerz, die vielleicht dazu geführt haben, dass meine Antwort heftiger war, als beabsichtigt. Falls das so ist, würde ich mich freuen, wenn Du es verzeihen und den damals bei und in mir herrschenden Umständen zuschreiben könntest.

Deine Mail und den Schmerz, den sie in mir ausgelöst hat, habe ich in Gedanken mit auf den staubigen Weg in die USA genommen. Und ich habe, wie Du es vielleicht weißt, falls Du den Blog verfolgt hast, die vielen Schritte und den Staub und die Hitze genutzt, um über Vieles nachzudenken und wenn möglich zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ich bin überzeugt, dass es gut für mich war. Gut war es, mich von Würzburg zu lösen und die alte Existenz aufzugeben. Gut war es, mich von vielem Besitz zu trennen und mich dadurch zu erleichtern. Gut war es, endlich den Tatsachen ins Auge zu sehen, mir selbst nichts mehr vorzumachen und daher den inzwischen ungeliebten Beruf aufzugeben. Gut war es, den Mut aufzubringen, das alles nicht nur zu wünschen, sondern es auch anzugehen und durchzuziehen. Und es hat ganz viel Kraft gekostet, besonders die Angst niederzukämpfen. Michael, der mich bei der Abreise am Flughafen Frankfurt durch seine Anwesenheit überrascht hat, schrieb mir später, dass ich ganz grau im Gesicht und total angespannt gewesen bin. Dass meine Hände gezittert haben, habe ich selbst gesehen. Und wenn ich mich dagegen heute erlebe, dann habe ich den Eindruck, dass ich mehr als jemals zuvor in einem Zustand der inneren Stimmigkeit bin, ausgeglichener und ruhiger. Vielleicht mache ich mir ja etwas vor, aber ich glaube doch, dass ich verändert zurück gekommen bin, auch wenn ich nicht den ganzen Weg gegangen bin. Und wie eine alte Freundin, parallel zu meiner eigenen Erkenntnis, völlig zutreffend schrieb, war wohl die Vorbereitungszeit die wichtigere Zeit!

Ganz besonders der letzte Satz Deiner Mail, „Schade, dass wir uns nie richtig kennengelernt haben“ hat mich sehr beschäftigt. Nach fast zwanzig Jahren, die wir zusammen gelebt haben, klingt er ziemlich deprimierend. Ich empfand ihn auch als Vorwurf, der heftigen Widerspruch zu erfordern schien. Gleichzeitig war mir klar, dass ich unter Berücksichtigung dieser meiner Reaktion dringend darüber nachdenken sollte. Und ich habe es getan und auch mit verschiedenen Menschen auf meinem Weg darüber gesprochen. Es hat lange gedauert, bis ich mit mir ins Reine kam und in der Lage war, die Gründe zu verstehen und sie anzunehmen. Und das ist auch der Grund, warum ich Dir heute schreibe. Denn Du hast Recht mit Deiner Aussage. So, wie ich heute bin, haben wir uns nicht kennen gelernt! Und auch, wenn es richtig und verständlich ist, es zu bedauern, so ist es eine unabänderliche Tatsache, dass es nicht möglich war.

Denn ich habe mich erst selbst kennen gelernt, wenigstens ein bisschen! Und ich lerne fast jeden Tag etwas Neues hinzu. Vieles von mir kannte ich nicht, es war verschüttet unter ganz alten Lasten und erstarrten Emotionen. Und so bin ich dankbar für die seit unserer Trennung vergangenen zwölf Jahren, in denen ich durch sehr viel Schmerz hindurch gegangen bin. Jeder noch so beschissene Klinikaufenthalt hat, in der Rückschau betrachtet, dazu beigetragen, dass ich ganz langsam gelernt habe, in mich hinein zu horchen, den schmerzhaften Gefühlen nachzuspüren und zu sehen, was darunter ist. Sehr viel hat mir der mehrmalige Aufenthalt in der Heiligenfeld-Klinik gebracht. Dank der dortigen Arbeit heißt es heute im Befund nicht mehr Depression, sondern posttraumatische Belastungsstörung. Und auch, wenn es vielleicht unwichtig ist, was da auf dem Papier steht, so fühlt es sich für mich viel stimmiger an. Denn es trägt dem Umstand Rechnung, dass da ganz viel Altes zu langfristigen Schäden geführt hat. Das meiste, was ich erlebt habe, kann ich beschreiben und erzählen. Nicht bewusst war mir dagegen, wie sehr es mein Verhalten beeinflusst und mein Leben einschränkt, noch heute! Nicht bewusst war mir, wie viele Mechanismen in mir wirken, die vielleicht einmal in ferner Vergangenheit als Schutzmechanismus wichtig waren, sich heute aber überlebt haben und sich auf mein heutiges Leben nachteilig auswirken.

Ich habe angefangen, mich selbst kennenzulernen. Damit ging einher, dass ich ein bisschen gelernt habe, auszusprechen, was mich beschäftigt. Es fällt mir noch immer schwer, merkwürdigerweise geht es aber leichter, wenn ich schreibe. Mir war nicht bewusst, dass das Schreiben gut und erleichternd für mich sein könnte und dass ich dabei auch eine gewisse Begabung zu haben scheine. Ich habe ja erst 2004 zum ersten Mal begonnen zu schreiben. Und ich versuche nun, im täglichen Leben darauf zu achten, mich selbst nicht dadurch einzuschränken, dass ich mir, wie bisher in meinem Leben, lieber auf die Zunge beiße, als etwas zu sagen, was mir auf der Seele brennt oder mich belastet. Daran muss ich täglich üben, es geht noch immer nicht so leicht. Und auch darum hat es ein bisschen gedauert, bis ich diese Mail schreiben konnte. Es hat gedauert, bis ich mir selbst eingestehen konnte, dass Du mit der Aussage recht gehabt hast. Es hat mir weh getan, es mir einzugestehen.

Ansonsten kann ich berichten, dass es mir hier recht gut geht, ich lebe in einem kleinen Zimmer bei Michael, wir habe eine Art WG. Die Wanderausrüstung, einige Klamotten und das Laptop sind weitgehend alles, was ich von meinem Besitz hier habe. Und ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig ich brauche. Ich bin jetzt wieder Hartz IV Empfänger, mein Anspruch auf Arbeitslosengeld ist aufgebraucht. Und auch, wenn ich mich auf Druck des Jobcenters auf Jobangebote für Fotografen bewerbe, so kann ich ruhig dem Umstand entgegensehen, dass die Zeit als Fotograf für mich vorbei ist. Ich vermisse es nicht, auch bin ich mit 57 Jahren auf diesem Markt nicht mehr zu gebrauchen. Und so versuche ich jetzt, einer wichtigen Erkenntnis zu folgen, die ich von den Fernwanderwegen mitgebracht habe: Es tut mir gut, unterwegs zu sein! Vielleicht kann ich daher eine Umschulung zum Busfahrer erreichen (die werden nämlich dringend gesucht….), die das Arbeitsamt finanziert, ich arbeite mich gerade in dieser Richtung vor. Erst, wenn ich wieder eine bezahlte Arbeit habe, werde ich wieder eine Wohnung haben, bis dahin bleibt es bei dieser Übergangslösung.

Ich hoffe und wünsche Dir, dass es Dir stetig gut geht, dass der Job Dich nicht umbringt und Du das Leben genießen kannst. Und wenn Du antworten magst, werde ich mich darüber freuen.

Lass es Dir gut gehen.

Herzliche Grüße

Matthias

Brief an Caro

Ein Gedanke zu „Brief an Caro

  • 6. November 2017 um 22:21 Uhr
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    hallo Matthias
    viele liebe grüsse aus Würzburg,ich hoffe dir geht es gut und du hattest viel spass in Frankreich.
    habe am Wochenende Florian astor „flow“ und michelle „lelu“ getroffen. liebe grüsse von den beiden.
    wir waren bei einem fernwandertreffen bei Gemünden auf das ich kurzfristig eingeladen wurde.
    lg
    heiko

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