Nach Hause kommen

Seit einer Woche bin ich von meiner Wanderung auf dem Fernwanderweg GR 65 in Frankreich zurück, der auch bekannt ist als französischer Jakobsweg. Es war eine gute Zeit, während der ich zu Fuß durch mir unbekannte Gegenden unseres Nachbarlandes gelaufen bin: von Genf über Le Puy bis nach St. Jean Pied de Port. Nach über tausendeinhundert Kilometern bin ich nun wieder in Wolfenbüttel. Das normale Leben wartet ja darauf, dass ich mich ihm stelle. Und ich merke, dass ich auch Lust darauf habe, es zu bewältigen und wieder Pläne für die Zukunft zu machen. Insgesamt fühlt es sich gut an, auch wenn ich, besonders beim Betrachten solcher Bilder, bereits längst wieder Sehnsucht nach dem Laufen, nach Südfrankreich und der dort noch immer herrschenden Wärme habe.

Ich habe viele positive Begegnungen gehabt, die dem stets vorgebrachten (Vor-)Urteil, die Franzosen wären unfreundlich, eindeutig widersprechen. Viele freundliche Menschen habe ich getroffen, und trotz meines arg limitierten Wortschatzes habe ich mit ihnen kommunizieren können, allein mit dem Willen zur Verständigung. Und ich habe meine Freunde in Chateau d’Orion besucht, Elke und Tobi wiedergesehen. Wie gern bin ich immer wieder dort! Es ist, ganz abgesehen von meinen Erinnerungen an die diversen Besuche dort, ein charismatischer Ort. Er ist so besonders durch die Menschen, die ihn geprägt haben und immer noch prägen. Diese Menschen leben Worte wie Freundschaft, Respekt, Empathie, Mitgefühl und ähnliche Werte, dazu die Liebe zum Land, der Natur und allen Menschen, die dort zu Hause sind. Und sie haben etwas geschaffen, wofür sich mit Haut und Haar einzusetzen eine Selbstverständlichkeit für sie ist.

Und doch bin ich, wieder mal, an meine inneren Grenzen gestoßen, gerade im Chateau d’Orion. In diesem Zusammenhang ging mir wieder einmal ein Lied durch den Kopf und ließ mich nicht los. Es beschäftigt mich sehr:

https://www.youtube.com/watch?v=61PL3KJFPss

In diesem Lied spüre ich den kleinen Matthias mit seinem Wunsch, nach Hause zu kommen, die Sicherheit spüren und angenommen zu sein. Es erzählt von dem, was ich glaube, nicht erlebt zu haben, nämlich dem Gefühl absoluter Sicherheit des Elternhauses. Und das wird mit so liebevollen Worten beschrieben, dass ich jedesmal extrem berührt bin von der beschriebenen Atmosphäre, die ich mir dazu versuche vorzustellen. Könnte ich weinen, ich würde es tun. Mich sicher und angenommen zu fühlen: Es ist mir so fremd, nachdem ich als Kind stets nur das Signal bekommen habe, falsch zu sein in jeder Situation. Und so habe ich das Gefühl, eine Zumutung für alle anderen Menschen zu sein.

Während meiner drei  Tage im Schloss waren viele Menschen dort, es fanden verschiedene Veranstaltungen statt und so kamen und gingen immer wieder verschiedene Besucher. Unter anderem gab es eine Gruppe, die zum Essen dort angemeldet war. Ich versuchte, mich nützlich zu machen und bereitete den Mittagstisch für 26 Personen vor, stellte Tische und Stühle, deckte Teller und Besteck, sorgte für Wein in den Karaffen, dekorierte mit Blumen, Kerzen und Servietten. Dann servierte ich während des Essens, räumte danach ab und sorgte auch dafür, dass der Raum anschliessend wieder in seinen Normalzustand zurückversetzt wurde. So war es ein ganzer Tag mit Arbeit angefüllt, aber es hat mir auch Spaß und Freude bereitet und passte so richtig zu meinem etwas skuril anmutenden Gedanken, selbst einmal ein kleines Hotel oder eine Bar zu führen. Dafür wäre es eine gute Übung gewesen. Und meine Hilfe wurde dankend angenommen. Mir dagegen war es auch ein starkes Bedürfnis, nicht im Weg zu stehen, keine zusätzliche Belastung zu sein und nicht zu stören.

Und obwohl ich Elke und Tobi kenne und von ihrer Wertschätzung meiner Person weiß, die sie wie selbstverständlich auch auf ihre Freunde und MitarbeiterInnen übertragen, so fühlte ich mich trotzdem deplaziert und wie ein Störfaktor. Es gibt dafür keinen äußeren Grund. Alle Menschen dort sind freundlich und wertschätzend, respektieren sich gegenseitig und sind ehrlich interessiert. Jeder akzeptiert die Eigenheiten der unterschiedlichen Personen und lässt jedem den Freiraum, den der Einzelne gerade benötigt. Und es ist gar kein Problem, wenn ich zum Beispiel sage, dass ich etwas Ruhe brauche und mich auf mein Zimmer zurückziehen möchte. Ich kann es tun, ohne dass ich dafür Strafe zu erwarten habe – und habe doch ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig das deprimierende Gefühl, zu stören und inkompatibel meinen Mitmenschen gegenüber zu sein! Und das ging soweit, dass ich große Schwierigkeiten hatte, in den Raum zum Essen zu gehen, den ich bereits mit dreizehn anderen Menschen gefüllt wusste. Das Bedürfnis zu flüchten wird in solchen Situationen übermächtig, der Wunsch, mich mit einer schalen Ausrede dem Moment zu entziehen und lieber die gewohnt und vertraut anmutende Einsamkeit zu akzeptieren.

Ich habe es dann zum Essen geschafft, bin scheinbar über meinen Schatten gesprungen. Den Aufwand an Energie, den es dafür braucht, merkt mir wahrscheinlich niemand an. Ich mir selbst auch nicht. Ich bin mir dann selbst fremd, innerlich wie abgeschaltet. Dass ich das kann, ist sicher kein Ruhmesblatt. Aus einer alten Notwendigkeit heraus, die eigentlich nicht mehr besteht, schalte ich die Emotionen einfach aus. Ich habe es zum ersten Mal bewusst erlebt, als ich im Herbst letzten Jahres in der Klinik in Uffenheim war. In einer Situation übergroßer Angst vor den eventuell hochkommenden Emotionen im Rahmen einer Übung merkte ich, dass ich irgendwie alles abschalten konnte. Ich habe die Übung dann gemacht, ganz ohne innere Beteiligung. Ich wusste bis dahin nicht, dass das geht! Und so saß ich dann zwischen anderen Gästen, beantwortete Fragen und beteiligte mich etwas am Gespräch, immer die Fluchtgedanken und das Gefühl des Falschseins unterdrückend.

Und diese Momente, in denen ich mich falsch und störend empfinde, ziehen sich als roter Faden durch mein Leben. Ich merke es an mir auch hier in Wolfenbüttel, habe es im Chor erlebt, auf der Wanderung, in meiner Familie. Immer habe ich das Gefühl, mich den anderen Menschen nicht zumuten zu können oder zu dürfen, immer falsch zu sein und die Zuwendung nicht zu verdienen. Und gleichzeitig dieses irre Bedürfnis nach Ankommen und Angenommensein….

….manchmal wünscht‘ ich, es wär‘ noch mal viertel vor sieben und ich wünschte, ich käme nach Haus‘!

Nach Hause kommen

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