Widersprüchliches

Über meine Freunde habe ich schon einmal geschrieben. Ich habe ganz besondere Freunde! Das hätte ich eigentlich schon längst wissen müssen. Es war mir aber nicht so bewusst, bis ich es in diesem Jahr erleben und sehr deutlich spüren konnte. Sehr viele, wertvolle Momente habe ich mit meinen Freunden und Freundinnen erleben dürfen, die mich berührt und gerührt haben. Für jedes von diesen Erlebnissen bin ich dankbar.

Und nun reagieren einige von ihnen durchaus positiv auf meine Beiträge der letzten Tage. Ich spüre ihre Wertschätzung und mich bewegt das Mitfühlen mit meinen Gedanken und Gefühlen. Und doch stehe ich da und bin verwirrt. Ich nehme die Mut machenden Worte und das zum Ausdruck gebrachte Verständnis auf und merke dabei, wieviel einfacher es die Menschen im Außen haben als ich selbst mit meinem Innen.

Ich habe groß und breit darüber geschrieben, was die E-Mail von Mamie aus den USA in mir an Gedanken und innerer Bewegung ausgelöst hat. Über die etwas wirre Überlegung, nochmals nach USA zu fliegen, einen anderen Weg zu planen oder mit dem Motorrad unterwegs zu sein. Und nun bekomme ich von meinen Freunden den Rat: Mach es doch einfach! Ich könne mir ja die Zeit nehmen, mich zu sortieren und mich danach erneut auf den Weg machen. Und diese Empfehlung ist dann verknüpft mit dem Hinweis, dass ich jederzeit willkommen bin und wiederkommen darf.  Wunderschön ist es, das zu lesen und zu wissen, dass es von Herzen kommt. „Mach es doch einfach!“ Einfach?

Ich habe es eben nicht so einfach, schon gar nicht mit mir selbst. Seit ich bei Michael und Barbara in Wolfenbüttel bin, treibt mich der Gedanke an, so schnell wie möglich wieder einen Job und dann eine eigene Wohnung zu finden. Ich möchte ihnen nicht zur Last fallen und habe Angst, dass irgendwann unsere Freundschaft durch mein Hiersein belastet wird. Das wäre mir mein derzeit so entspanntes Leben nicht wert, zu riskieren, dass unsere wertvolle Freundschaft Schaden nimmt. Weiterhin spüre ich die Lust und innere Bereitschaft, mir wieder einen eigenen Lebensraum zu schaffen, ihn schön zu machen und für mich liebevoll zu gestalten. Ich könnte mir wieder eine Freundin vorstellen und ich habe Lust, für mich schöne Dinge zu kaufen.

Gleichzeitig gehe ich hier durch die Straßen und erlebe ein Gefühl von Ablehnung und Überdruss, wenn ich die schmucken Häuschen sehe, die planierten Vorgärten und die frisch gewaschenen Autos davor, und mir das dort gelebte Leben vorstelle. Dieses, von mir vielleicht mit den Attributen „bürgerlich“ oder „spießig“ beschriebene Leben scheint nicht das Leben zu sein, das ich für mich sehe. Oder eventuell doch? Vielleicht ist es das Problem, dass ich für mich noch gar kein Leben deutlich vor Augen habe und in Ermangelung dessen noch immer mit den Werten lebe, die mir beigebracht worden sind? Weil es vertraut und bequem ist und keine Angst erzeugt, bei alten Werten zu bleiben?

Dann spüre ich die Last meiner eigenen, selbstgewählten inneren Begrenztheit, die es mit sich bringt, dass ich eben nicht so leicht wieder aufbrechen kann, wie die Ratschläge es nahelegen, egal wohin. „Das kannst Du doch nicht machen, Du must ja auch mal wieder zurück in Lohn und Brot…“ oder „Nur wer arbeitet, ist auch etwas wert…“ oder „Denk doch mal an die Rente…“: solche und ähnliche Töne in mir machen es mir ganz schwer, mich wieder aufzumachen. Sie sind ja auch im Grunde zutreffend. Aber ist es nicht auch so, dass ich diese Freiheit, die ich gerade habe, selbst gar nicht ausfüllen oder genießen kann? Dass ich mich nicht traue, diese Freiheit für mich in Anspruch zu nehmen und nach meinen Wünschen zu gestalten?

Ich hatte auf dem PCT meinen iPod dabei, ein altes, schon ziemlich in die Jahre gekommenes Gerät, dessen Batterie nicht mehr wirklich frisch ist. Der Speicher war fast voll mit Musik, Meditationen und interessanten Texten, damit ich, wenn ich dazu Lust haben würde, mich an dem Gehörten erfreuen könnte. Im Chaos des Packens habe ich dann vergessen, das Ladekabel mit einzupacken, sodass ich während der Wanderung nicht in den Genuss kam, irgendetwas hören zu können. Ich habe es auch nicht wirklich vermisst. Von einer ehemaligen Mitpatientin hatte ich im Vorfeld der Wanderung eine DVD mit Meditationen und Übungen unter der Überschrift „Werde verrückt“ bekommen, die ich sorgsam auf den iPod übertragen habe, um mich damit in Ruhe zu beschäftigen. Vielleicht war es ein Fehler, es nicht gleich anzuhören? Vielleicht hätte ich alles doch einmal in der Ruhe Kaliforniens hören sollen?

Es ist die auf der DVD empfohlene Verrücktheit, die es möglich machen soll, sich die eigene Freiheit zu nehmen und ohne die oben beschriebenen Stimmen die Dinge zu tun, die unter „normaler“ Betrachtung nicht in Frage zu kommen scheinen. Etwas Verrücktes zu tun, ohne darüber nachzudenken, was denn die Anderen dazu sagen würden. Und es tun, ganz ohne Reue! Bisher scheint es mir, dass ich das noch nicht kann. Ich will versuchen, in den kommenden Tagen eine eigene Position zu finden: Was möchte ich eigentlich gerade? Und mich dabei einmal frei zu machen von den Werten, die ich noch immer mit mir herumtrage, auch wenn sie nicht „meine“ Werte sind. Es würde doch zu meinem Jahr 2017 passen, wenn ich mutiger zu meinen Wünschen und Zielen stünde und mich mehr für sie einsetzen würde.

Ein bisschen verrückter werden – würde mir das stehen?

Widersprüchliches

3 Gedanken zu „Widersprüchliches

  • 25. Juli 2017 um 22:45 Uhr
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    Lieber Matthias,

    sicher würde es Dir stehen, noch etwas verrückter zu werden. Obwohl… Dieses zu deuten liegt ja auch im Auge des Betrachters. Aber vielleicht solltest Du darüber nachdenken, ein anderes Wort zu finden.

    Ich schaue mir dieses Wort schon eine geraume Zeit an und denke, es wird einfach falsch benutzt. Schaue ich mich in meiner Wohnung um, so habe ich den Schrank ver-rückt, um dahinter ein Kabel lang zu legen. Die Teller in der Küche sind auch ver-rückt, weil sie nicht mehr da stehen, wo ich sie haben will. Also: Ver-rückt bedeutet doch eigentlich nichts anderes, als, etwas ist nicht mehr an seinem Platz. Gedeutet wird es aber immer mit etwas negativem, nämlich das etwas irre ist. Nenne es durchgeknallt. Das Gegenteil von normal ist nicht ver-rückt sondern unnormal.

    Es ist immer einfach zu sagen, wie es mir auch aus der Vergangenheit nachhallt, „ja bist du denn verrückt geworden“ als Frage, oder als sichere Aussage “ du bist ja verrückt!“. Aber auch nur weil man sich entschlossen hat, Dinge zu tun, die andere als unnormal empfinden und die gegen ihre Werte oder Überzeugungen stehen. Aber es ist oder war immer neagtiv gemeint. Als wäre man nicht in der Lage, selber Entscheidungen zu treffen und müsse immer eine höhere Macht befragen. So etwas wie ein Orakel vielleicht. Ich gebe ja zu, bei manchen Entscheidungen hätte ich möglicherweise das Orakel befragen sollen und wäre dann sicherer gefahren, aber ich war irgendwann der Meinung, alt genug zu sein, aus meinen Fehlern lernen zu können und im zweifelsfall auch dafür gerade zu stehen. Wie auch immer, ich schweife ab…

    Menschen, die als verrückt bezeichnet werden, sind immer gleich bedeutend für Irre. Aber Irre gehören ins Irrenhaus, mit Medikamenten vollgedröhnt und möglichst für immer weggesperrt.

    Die wirklich Irren laufen frei herum, sitzen in der Politik, der Wirtschaft und weiß der Keks wo noch, bringen andere in Gefahr, üben psychische und physische Gewalt aus und vieles andere mehr. Und gelten doch als normal.

    Was mich angeht, so würde ich auch nicht sagen das ich ver-rückt bin, vielmehr das in meinem Leben etwas ver-rückt wurde, was es mir nicht möglich macht, wie andere Irre zu leben. Auch wenn ich daran arbeite, das zurück zu rücken, werde ich mich niemals als normal bezeichnen und möchte auch nicht so bezeichnet werden. Und ein Spießer mit Selbsterkenntnis in der Familie reicht doch auch, denke ich.

    Und natürlich habe ich schon nach einem passenden Ersatzwort Ausschau gehalten. Dabei fallen mir die Sprachfloskeln ein, die ich gelegentlich in Stellenausschreibungen lese. Hier wäre dann das Wort „Flexibel“ oder „Spontan“ ein möglicher Lückenbüßer. Wobei, würde ich nicht den Hintergrund kennen, schon sagen würde, dass Du ein wenig irre bist, für das Abgeben einer Bewerbung extra nach Berlin zu fahren.

    Und dann fiel mir noch der Gedanke ein, ob es denn auf der Welt irgendetwas gibt, was vor mir/dir noch keiner gemacht hat und natürlich davon erzählen kann. Denn, hey, in einen Vulkan springen zählt nicht. Wäre aber irre und natürlich unnormal.

    Laß es Dir gut gehen

    Clemens

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  • 25. Juli 2017 um 8:29 Uhr
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    Lieber Matthias, ich kann deine Gedanken so gut nachvollziehen und bin dir dankbar, daß du sie so deutlich aufschreibst. Du sprichst mir aus der Seele. Ich frage mich auch ständig, was ich denn eigentlich will, soll, kann, darf, wollen muss und so fort. Ist es nicht fürchterlich spießig, 20 Jahre am gleichen Arbeitsplatz zu sein, keine Karriere, kein beruflicher Höhenflug, kein Vermögen auf dem Nummernkonto…. sollten wir nicht mittlerweile „ausgesorgt“ haben? Und dennoch, als ich gestern einen Kurs verließ und in den Himmel schaute, dort einen – nein, eigentlich zwei – Regenbögen vorfand in den leuchtendsten Farben, die beständig intensiver wurden, dachte ich: an keinem Ort würde ich jetzt lieber sein, war dankbar und hüpfte innerlich und äußerlich auch :), dachte an das biblische zitat zum regenbogen (so lange die erde steht, soll nicht aufhören, saat und ernte…..usf) und war glücklich ob der erfahrungen, die ich mit diesem wunderwerk körper und seinen sensorien machen kann. Ob das genügt? Mir schon! Verrückt – was ist das? Verrückt finde ich es, in einem reihenhaus zu wohnen und das auto einmal in der woche zu waschen, kinder zu rentenknechten zu erziehen und sich durch seltsame ernährungsgewohnheiten diabetes zuzuziehen.
    Einen fröhlichen morgengruß schicke ich dir nach wolfenbüttel!

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    • 25. Juli 2017 um 21:20 Uhr
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      Stimmt. Wer sagt eigentlich dass dich Reihenhaus Variante nicht die verückteste überhaupt ist…?!

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