Der Film „Forrest Gump“ gehört zu den Filmen, die ich ganz besonders liebe. Dafür gibt es verschiedene Gründe, einer ist natürlich der Hauptdarsteller Tom Hanks. Und viele skurrile Szenen sind es wert, sich den Film mehrfach anzuschauen. In diesem Film läuft Forrest Gump eines Tages los, und er läuft und hört nicht mehr auf. Er durchquert die Vereinigten Staaten von Ost nach West oder West nach Ost. Und irgendwann kommt der Moment, an dem er stehen bleibt und sagt: Ich bin müde! Und dann geht er nach Hause.
Ich bin in Susanville. Für eine Nacht. Jetzt wundert Ihr Euch sicher und fragt Euch, was macht er denn dort? Susanville liegt nicht am PCT. Es ist etwa 90 Meilen nördlich von Reno und etwa 40 Meilen vom PCT entfernt. Und deswegen ist die Frage auch berechtigt, was ich hier mache.
Heute bin ich vom Trail geflüchtet. Ich bin wach geworden, wie immer so gegen 5:30 Uhr. Der Schlafsack war wieder feucht geworden, das Kondenswasser tropfte auf meine Klamotten. Es war ziemlich kalt im Wald, die Sonne schaffte es noch nicht durch die dichten Bäume. Und ich spürte, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Dass ich nicht mehr weiter gehen möchte?
Ich fühlte einen solchen Überdruss, wenn ich an die feuchten Socken, die nassen Schuhe und die klamme Kleidung denke, ich war müde des Tragens eines schweren Rucksacks. Und ich war müde des Laufens ohne innere Überzeugung. Zum ersten Mal, seit ich auf dem Trail bin, tun mir die Muskeln in den Beinen weh, sodass ich Schwierigkeiten habe, in die Hocke zu gehen oder mich daraus zu erheben. Als hätte ich mir selbst Gewalt angetan, indem ich weitergegangen bin. Die Achillessehnen schmerzen, und ich habe das Gefühl, dass mein Laufen nicht mehr identisch ist mit dem vor zwei Wochen. Es fühlt sich an, als würde ich in Puschen laufen.
Ich könnte jetzt sagen: Ich bin müde, ich möchte nach Hause! Das wäre dann die Analogie zu Forrest Gump. Und irgendwie stimmt es auch. Ich bin unendlich müde, ohne sagen zu können, warum das so ist. Ich habe gestern, noch auf dem Trail, bereits am Vormittag Momente gehabt, wo mir die Augen zufielen, als ich mich hingesetzt hatte. Auch habe ich einen Mittagsschlaf gemacht, auf meiner Isomatte liegend, im Schatten unter einer Kiefer. Irgendetwas wirkt wie eine Bremse, macht mich langsam und entzieht mir die Kraft. Und so fühlte es sich auch an, als ich gestern noch mal 17 Meilen gelaufen bin. Jeder Schritt fiel mir schwer, obwohl der Weg nicht wirklich anspruchsvoll war. Er führte ausschließlich durch den Wald und die Landschaft erinnert er mich an europäische Wälder.
Es hat vor zehn Tagen begonnen, als ich die ersten großen Schneefelder zu überqueren hatte. Ich könnte aber nicht sagen, was wirklich passiert ist. Aber ich habe bemerkt, dass mich die Landschaft, so großartig sie war, zunehmend kaltgelassen hat. Ich habe meine Mitwanderer beobachtet, die in begeisternde Rufe ausbrachen, wenn sich ein neues Bergpanorama zeigte. Ich war verwundert darüber, dass es mich so derartig unberührt ließ. Zunehmend richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den Schneehaufen vor mir, auf den ich als nächstes meinen Fuß setzen würde, mit der Vorgabe, dort auch sicher stehen zu können. Auch das Fehlen von Tieren, Blumen und Gerüchen in dieser Eiswüste machte es mir nicht leichter. So kam ich, völlig ungewollt, zu einer Distanz zu dem Weg, den zu gehen mein größter Wunsch in diesem Jahr war.
Ich weiß auch nicht, welche Nebenwirkung die schwierige Navigation, die riskanten Flussüberquerungen und die extremen Anstiege zu den Passhöhen mit sich gebracht haben. Ganz sicher jedoch kann ich sagen, dass die ständig nassen Füße hier eine wichtige Rolle spielen. Und auch, nachdem wir dieses Abenteuer heil und gesund überstanden hatten, änderte sich das Gefühl nicht mehr. Im Nachhinein wurde das Bewusstsein für die Gefahr noch dadurch verstärkt, dass so viele aus unserer Gruppe, besonders die Erfahrenen, schnellstmöglich das Weite suchten und nicht mehr auf den Trail zurückgingen.
Ich jedoch wollte mir treu bleiben, meinen ursprünglichen Vorsatz umsetzen und weiterhin laufen. Aber ich spürte bereits in Bishop, dass ich den roten Faden für meinen Weg verloren hatte. Und die Unsicherheit habe ich, glaube ich, hier zum Ausdruck gebracht. Ich war mir einfach nicht mehr sicher, ob ich ihn wiederfinden könnte. Mit Aufmunterung und Unterstützung meiner Freunde habe ich das versucht, als ich über Reno nach Chester fuhr und mich sofort wieder auf den Trail begab. Ich habe es wirklich versucht, ganz ernsthaft! Und hätte beinah bereits in Reno den Schlussstrich gezogen, als mein Telefon scheinbar den Geist aufgab, so wie vieles meiner Ausrüstung gerade kaputtgeht.
Der Busfahrer, der mich heute als einzigen Passagier von Chester nach Susanville brachte, schlug mir vor, doch wenigstens noch den Yosemite-Nationalpark zu besuchen, der in diesem Jahr durch das viele Wasser besonders reizvoll sein soll. Und ich spürte, dass das nicht geht. Irgendwie bin ich ja nicht wegen touristischer Highlights hier. Ich würde mich vor allem alleine fühlen, dazu fehl am Platz und wahrscheinlich die Natur nicht genießen können, ganz gleich, wie spektakulär sie auch ist. Vielleicht geht es mir doch wie Forrest Gump: Ich bin müde und möchte nach Hause.
Möglicherweise ist auch von Bedeutung, dass ich sehr viel alleine war. Vielleicht war das nicht gut für mich? Die meiste Zeit des Weges bin ich als Solo-Hiker gelaufen. Wenn ich jemanden traf, habe ich immer versucht, ein nettes Gespräch entstehen zu lassen, was dazu geführt hat, dass ich vielen Hikern bekannt bin, zugegebenermaßen auch wegen meines schlechten Englisch! Aber ein echter Austausch hat sich dabei nicht ergeben, und es lag nicht nur an meinen begrenzten Sprachfähigkeiten. Irgendwie habe ich niemand Gleichgesinnten gefunden, mit dem ein tiefergehender Austausch möglich oder sinnvoll gewesen wäre. Und stets nur über Ausrüstung, Schneehöhen und Entfernungen zu sprechen ist auf die Dauer extrem ermüdend.
So musste ich heute Morgen einsehen, dass es irgendwie nicht mehr weitergeht. Ich hatte wieder keinen Empfang beim Telefon, obwohl ich sehr gerne mit irgendjemandem gesprochen hätte. Und so schob ich das Zusammenpacken und den Abmarsch auf dem Trail immer weiter in die Länge, weil eine definitive Entscheidung zu fällen mir unglaublich schwer viel. Und an dem Waldweg zu trampen, stellte sich als ziemlich sinnlos heraus. Denn zum einen waren fast keine Autos unterwegs, zum anderen waren es spürbar Touristen, die keinerlei Beziehung zum PCT und den Wanderern hatten. Zudem bin ich weder weiblich noch blond! Und erst, als ich mich etwas resigniert zu Fuß in Bewegung setzte, spürte ich, dass ich eine Entscheidung gefällt hatte und diese sich richtig anfühlt. Ich hatte wieder ein Ziel, nämlich die Zivilisation, die nächste Ortschaft und den Telefonempfang. Ich hatte dann doch noch Glück und wurde mitgenommen, bis nach Chester, wo ich in der Ortsmitte abgesetzt wurde.
Im Café traf ich zu meiner Überraschung Mandy und Mamie wieder.
Es tat uns allen dreien gut, dass wir uns noch einmal begegnet sind. Beide sind am Nachmittag wieder auf den Trail gestartet. Ich habe ihnen versucht zu erklären, was in mir vorgeht. Sie waren die Ersten, die davon erfuhren. Und bei aller Betroffenheit war doch die Reaktion die: Bleib dir selbst treu! Und während wir jeder einen Milchshake genossen, bemerkte ich eine weitere Veränderung in mir. Ich spürte, dass ich mich den Hikern nicht mehr zugehörig fühlte, dass ich ihre Nähe vermied, ihnen aus dem Weg ging.
Matthias, der Looser? Habe ich etwas erreicht von dem, was zu erreichen ich gehofft hatte? Gibt es Veränderungen, die ich erreicht habe? Konnte ich etwas abwerfen von den alten Lasten, mit denen ich noch immer herumgelaufen bin?
Ich habe über „Quälen“ einen Beitrag geschrieben. Zuletzt hat es sich angefühlt, als würde ich mich bewusst quälen. Habe ich viel zu spät auf mein Gefühl gehört? Oder hätte ich das weiterhin tun müssen? Habe ich, in diesem Punkt, angemessen auf die Bedürfnisse des kleinen Matthias reagiert?
Ich bin weder glücklich noch froh mit meiner Entscheidung. Ich bin auch nicht sicher! Aber wenn ich auf mein Gefühl achte, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, so stelle ich fest, dass es sich zumindest nicht wirklich falsch anfühlt. Und das scheint mir ein kleiner Fortschritt zu sein. Es fühlt sich für mich so an, als würde ich gerne dem ermüdenden Smalltalk entgehen, den künstlich-gesüßten Speisen ausweichen und den USA zunächst einmal den Rücken kehren, ohne alles, was ich getan oder erlebt habe, ins Negative zu ziehen. Ich möchte gern nach Hause, mit vertrauten Menschen in meiner Sprache reden, gesundes Essen essen, in trockene Kleidung steigen und mich sauber fühlen nach der Dusche.
Vielleicht bin ich kein Thru-Hiker. Ich wollte sehen, ob ich einer sein könnte, dachte es von mir. Aber es stört mich, in muffelnden Klamotten herumzulaufen, mit schmutzigen Füßen in den Schlafsack zu steigen und das ständig nasse Zelt als übel riechendes Objekt täglich aus dem Rucksack zu ziehen. Vielleicht bin ich eher der Camping-Typ, sozusagen der Weichspül-Hiker. Aber auch diese Erkenntnis ist ein Gewinn. Oder mache ich mir etwas vor?
Wie stehe ich jetzt da? Enttäusche ich die Menschen, die mit mir mitgefiebert haben?
hallo Matthias
manchmal gehört viel mut dazu den trail zu verlassen.die amis haben es natürlich einfacher.sie können jederzeit wieder loslaufen.bist du dir ganz sicher.mach doch erst mal eine pause für ein paar tage.
die welt schaut anders aus mit trockenen füssen, sauberer Kleidung.gutem essen und einem dach über dem kopf.dann kannst du dich immer noch entscheiden.
alles liebe und vielleicht oder auch nicht bis bald
heiko
Lieber Matthias!
Ich glaube, Du bist mehr als 1/3 des Weges gegangen und hast gekämpft. Der Weg war das Ziel und Du solltest Dich nicht daran messen, den ganzen Weg gelaufen zu sein! Ich freue mich sehr darauf, Dich hier wieder zu sehen – noch mehr von Deiner Zeit auf dem Weg zu erfahren und wieder einen der wirklich wenigen Gesprächspartner zu haben, mit denen ich mehr als oberflächliche Gespräche führen kann. Ich habe mich für Dich gefreut, dass Du den Weg in angriff genommen hast und ich werde mich sehr freuen, Dich hier wieder gesund in die Arme schließen zu können!
Lieber Matthias – also erst mal: nein: du enttäuschst nicht, mich zumindest nicht. Ich glaube, du brauchst Wärme, viel Wärme. Du bist ja nicht im Krieg, sondern kannst dir wirklich dein Ziel aussuchen. Das ist manchmal schwerer, als gemeinhin angenommen wird. So viele Ziele, so viele Motivationen!
Hab neulich ein ganz interessantes Buch gelesen, darin gab es zwei japanische Gedichte, die teile ich jetzt mit diir, weil ich finde, sie passen:
alles lebende geht dahin
diese kurze liebesspanne
sinnvoll zu leben
ist des lebens sinn
und:
viele wege führen zum gipfel
über alle breitet der mond sein licht.durch die zweige und über die felsenspitzen
sieht man von überall die gleichen gestirne
ich möchte dich daran erinnern, daß es kein richtig und falsch gibt auf deinem weg, lauf ihn, wenn dich der weg und das ziel interessiert, lass es sein, wenn sich die situation geändert hat. wenn du sehnsucht nach menschengesellschaft hast, oder finde alternative ziele, yellowstone scheint mir nicht das schlechteste zu sein, die amerikanischen landschaften sind wirklich atemberaubend weit! Dass du diese weite in dein herz lassen kannst wünsche ich dir – umarmend und herzlich – doris
Lieber Matthias,
nein, du enttäuscht nicht die Menschen, die mit dir mitgefiebert haben, nicht der Weg sondern du bist diesen Menschen wichtig! Wesentlich ist vielmehr die Frage: Enttäuschst du dich selber?
Wenn du wieder zu Hause bist, dann solltest du stolz auf deinen Weg sein können. Du solltest mit erhobenem Haupt von deinem Weg berichten können, dich stark fühlen und dich nicht als Looser betrachten. Das kannst du dann, wenn du den Weg aus ebenso tiefer Überzeugung beendest, wir du ihn auch begonnen hast. Diese Entscheidung werden wir hier zu Hause dir nicht abnehmen können, genau so wie Forrest Gump sollst du die Sicherheit haben, das Richtige zu tun. Ganz gleich, wie du dich entscheiden wirst, in Deutschland hast du Freunde und eine Familie die zu dir steht!