Krise

Am folgenden Morgen blieb ich tatsächlich liegen, obwohl ich bereits um 5:00 Uhr morgens wach war. Es war angenehm warm im Schlafsack, auch wenn er außenherum, wie gewohnt, feucht bis nass war. Ich erlebte das Wachwerden der Natur, und als ich das Zelt ein wenig geöffnet hatte, konnte ich den Sonnenschein auf den umliegenden Bergen sehen, der sich nach und nach bis zu meinem Schlafplatz vorarbeitete.

Ich gebe es zu, ich bin gegen 7:00 Uhr missmutig aufgestanden. Die Feuchtigkeit des Schlafsacks nervte mich sehr. Ich habe ja stets darauf geachtet, dass die Sachen, die ich besitze, in einem guten Zustand bleiben. Dies hatte ich auch mit dem Schlafsack vorgehabt. Und da ich mir ja auch vorgenommen hatte, mir Zeit zu lassen, legte ich den Schlafsack zum Trocknen in die Sonne, die noch nicht wirklich Wärme abstrahlte.

Es ist ein blöder Zustand, wenn man nicht mehr weiß, ob oder wie man eigentlich fortfahren möchte. Dies ist vor allem dann ärgerlich, wenn es gar keine Handlungsalternativen gibt. Eigentlich hatte ich aufgegeben, wollte nicht mehr weiter. Ich konnte aber nicht aussteigen aus dem Trail, selbst wenn ich es gewollt hätte, die einzige Option war, vorwärts oder zurück zu gehen. Aber gehen würde ich müssen! Es gibt kein Telefon, keinen Bus, kein Taxi, es ist Wildnis, weit ab menschlicher Siedlungen.

Und während ich so langsam meine Sachen trocknete und die anderen  Sachen verpackte, wurde ich von einer den Bergrücken heraufsteigenden Gruppe von Wanderern herzlich begrüßt. Es waren meine alten Bekannten Everett und Kathryn, dazu Martin aus England, Florian aus Deutschland mit seiner amerikanischen Freundin und eine weitere Hikerin,  die ich noch nicht kannte. Ich glaube sagen zu können, dass sie mich mögen. Und das war spürbar.

Ich erzählte Florian auf Deutsch, wie es mir gerade geht und dass mir der Sinn des Wanderns auf dem PCT verloren gegangen ist. Und merkte auf einmal, in welch schlechtem mentalen Zustand ich mich befand. Ich kämpfte so gegen das Weinen, wie lange nicht mehr. Florian nahm mich in den Arm und versuchte mir Mut zu machen. Jedoch wollte er den Anschluss an seine Gruppe nicht verlieren. Er schlug mir vor, mich dieser Gruppe anzuschließen, um nicht weiterhin allein zu sein.

Ich packte meine Sachen zusammen und machte mich wieder auf den Weg. Mit sehr schlechte Stimmung, ich gebe es zu. Zu meiner Überraschung holte ich die Gruppe doch relativ schnell ein. Von der Freundin von Florian wurde ich gefragt, ob ich mich ihnen nicht anschließen möchte. Meine Antwort war: Wenn ihr mich in eurer Gruppe akzeptieren könnt! Das war der Fall, besonders von Everett und Kathryn ging eine warme Stimmung aus.

Ich  hört auf, mich um die Navigation zu kümmern und folgte einfach der Gruppe. Diese wurde meistens von Everett angeführt, wogegen Florian meist am Ende ging, damit kein Teilnehmer der Gruppe verloren ginge. Und so sprachen wir öfters miteinander, da ich deutlich der Langsamste in der Gruppe war. Ich erzählte ihm relativ ungeschminkt, wie es mir geht und welche Themen mich sehr belasten. Und merkte dabei, dass mich besonders der Aspekt, der Letzte zu sein, besonders bedrückte. Dies habe ich ihm gegenüber zum ersten Mal ausgesprochen.

Und nicht etwa, dass der Weg leicht gewesen wäre. Wie bereits beschrieben ging es über Schneeberge, zwischen eng stehenden Bäumen hindurch, über den Trail, der ein Bach geworden war und über riesige Schneefleckchen, deren Oberfläche einem Schweizer Käse ähnelte. Und dann standen wir an einem Fluss! Diesen galt es zu überqueren, jedoch ließ die Strömung nicht erwarten, dass das irgendeinem aus der Gruppe lebend gelingen würde. Infolgedessen gingen wir am Fluss entlang, sicher eine Meile weit, bis wir eine Stelle gefunden hatten, an der die Überquerung möglich schien. Florian erprobte das und es schien zu gehen.

Jeder von uns ging nun durch den Fluss, mit Schuhen und Socken. Den Schwächeren in der Gruppe wurde meist ein kräftiger und erfahrener Mann zur Seite gestellt, auch mir wurde das angeboten, ich wollte es aber allein probieren. Es war wirklich harte Arbeit, die Füße überhaupt am Boden zu halten oder einen Schritt zu machen. Auch die Trekkingsstöcke zu platzieren, war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wasser war reißend, zudem eiskalt und ging mir bis zur Mitte des Oberschenkels. Und so war ich froh, als ich das gegenüberliegende Ufer erreichte, auch ein wenig stolz auf mich. Und trotzdem hätte ich am liebsten geheult, die Sonnenbrille ließ es aber nicht so sichtbar werden. Und so ging es mir den restlichen Tag immer wieder. Wir haben noch zwei weitere Flüsse überquert.

Auch das Gehen auf den Schneebrücken ist eine ziemlich gefährliche Angelegenheit. Eine Schneebrücke ist gestapelter Schnee über einem Bach, der die Überquerung mit trockenen Füßen ermöglichen kann. Es lässt sich jedoch nicht abschätzen, ob die Brücke tatsächlich hält. Eine Hikerin ist bei der Überquerung eingebrochen und ums Leben gekommen. Auch deshalb haben wir viele Umwege machen müssen, um eine sichere Überquerung der Bäche zu schaffen. Ziemlich fertig kamen wir gegen 17:00 Uhr an einer Stelle an, an der kein Schnee lag und die soweit trocken war, dass wir beschlossen, dort zu übernachten. Wir bauten unsere Zelte auf und setzten uns dann zu einem gemeinschaftlichen Abendessen als Gruppe zusammen.

Was für eine Erkenntnis hat mir dieser Tag gebracht? Zunächst einmal könnte es mein Fehler gewesen sein, den Weg alleine bewältigen zu wollen. Ist es nicht auch eine wichtige Erkenntnis, dass man der Hilfe anderer Bedarf? Warum sollte es besser sein, nicht auf andere angewiesen zu sein? Und alles selber machen zu wollen?

Eine weitere wichtige Erkenntnis scheint mir zu sein, dass es unglaublich wohltuend ist, von freundlichen Menschen unterstützt zu werden. Meine Freunde tun dies oft, warum glaubte ich, es ohne die Hilfe anderer Wanderer auf dem PCT zu schaffen? Wenn mehrere Menschen gemeinsam ein Ziel verfolgen, können sie sich gegenseitig unterstützen und gemeinschaftlich große Ziele erreichen!

Und es ist ungeheuer wohltuend, in den Arm genommen zu werden. Das habe ich mehrfach in Anspruch genommen. Und stets gegen die Tränen gekämpft. Es war ein harter Tag. Aber auch kein schlechter Tag, denn er hat mir viel zum Nachdenken gegeben und mir neue Erkenntnisse verschafft. Und ich fühlte mich am Abend auch nicht mehr so niedergeschlagen, wie es morgens gewesen war.

Krise

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