Schatten

Eine Volksweisheit sagt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wer weiß das besser als ein Ex-Fotograf? Mit Licht und Schatten zu arbeiten ist mir so vertraut, dass ich beim Betrachten von Bildern noch immer automatisch darauf achte, wie die Schatten verlaufen. Auch in der Realität, zum Beispiel in einem Restaurant, schaue ich ständig auf die Lichtsituation und versuche, durch Veränderung meines Standpunktes die Schatten zu optimieren.  Sie gehören zum Licht, befinden sich jedoch immer auf der gegenüber liegenden Seite.

Manchmal unterhalte ich mich mit Menschen über meinen Weg, und es tut gut, auch mit kritischen Fragen konfrontiert zu werden. Sie helfen mir, die eigene Position kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen und zu einem neuen Standpunkt zu kommen oder auch zu erkennen, dass der bisherige Standpunkt stimmig und für mich richtig ist. Der heiligen Teresa von Avila wird der Satz zugeschrieben: Wer nie zweifelt, kommt nie zur rechten Einsicht in die Dinge! Und die Frage, um die es mir hier geht, habe ich schon ein paar Mal gehört. „Könnte es nicht auch sein, dass der Weg, die Wanderung, eine Flucht ist?“

Also hinterfrage ich meine eigene Position. Vor was könnte ich flüchten? Die Schatten der Vergangenheit werden definitiv mit mir gehen. Mir ist bewußt, dass ich ihnen nicht entkommen kann, sie sind ein Teil von mir und meiner Vergangenheit. Und die Vergangenheit kann ich nicht neu schreiben. Ich werde sie auf meinen Weg mitnehmen, sie anzunehmen versuchen und Wege suchen, mit ihr zu leben. Ich kann nicht vor ihr flüchten, auch wenn ich es gern tun würde.

Gestern Abend habe ich die ersten Kisten gepackt. Zunächst einmal die Unterlagen zur Buchführung, die ich für zehn Jahre aufbewahren muss. Dann eine Kiste, in die ich Fotos aus der Vergangenheit verpacken wollte, Bilder meiner Familie und meiner Herkunftsfamilie. Kleinbilddias, die ich seit über zehn Jahren nicht mehr angeschaut habe. Und in der Überlegung, ob ich nicht alles entsorgen sollte, was ich seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt habe, holte ich schnell den Diaprojektor heraus, um von den Bildern so viel wie möglich wegzuschmeißen. Und nahm mir vor, es im Schnelldurchgang zu machen. Es hat zwei Stunden gebraucht, die fast zweitausend Bilder schnell durchzuschauen. Und ich habe keines in den Abfall getan, obwohl es sicherlich manches Bild verdient hätte. Ich konnte es nicht, weil es mich niederdrückte, sie mir angesehen zu haben.

Es waren Bilder aus der Zeit in Berlin, den letzten Jahren der „Familie“, auch aus meiner ersten Wohnung in Steglitz. Beim Betrachten merkte ich, dass mir diese Zeit wie Blei vorkommt, mit einem mentalen Druckgefühl, einem Grauen. Ich bin mir selbst auf den Bildern fremd, bin peinlich berührt von mir selbst, in einem Leben, das mir nicht das Meine zu sein scheint. Und dann gibt es Bilder meiner Familie, von meinen Kindern. Fotos von Urlauben, Ausflügen, aber auch aus den Wohnungen, die wir bewohnt haben. Bilder von mir mit meinen Kindern, und es hat mich überrascht, wie oft ich mit ihnen fotografiert worden bin. Und ich habe einen leisen Schmerz gefühlt angesichts dessen, was ich verloren habe und was ich noch immer gerne hätte. Und spürte noch in den Bildern die heftige Ablehnung durch die Schwiegereltern.

In der Nacht habe ich dann geträumt. Es war eine Situation wie im Buch von George Orwell. Eine ständige Überwachung und Bedrohung, mit der Option einer massiven Bestrafung bei Auflehnung. Ich befand mich in verdeckter Opposition und ein junges Mädchen wollte es mir gleichtun, obwohl ich sie gewarnt hatte, was das für Konsequenzen haben kann. Sie versuchte, mit mir zu telefonieren, obwohl andere Personen zuhören konnten und brachte sich damit in große Gefahr. Und mich damit auch. Ich erwachte mit diesem Gefühl des bevorstehenden Unheils, eines Grauens und einer großen Niedergeschlagenheit. Diese Niedergeschlagenheit hat mich über den Tag begleitet, ich spürte den Wunsch, weinen zu können und wäre gern getröstet worden.

Das sind meine Schatten! In den Träumen begegne ich ihnen oft, und ich muss diesmal nicht überlegen, was die Träume und die daraus resultierenden, negativen Gefühle ausgelöst hat. Ich begegne ihnen meist unvorbereitet, diesmal durch das Anschauen der Bilder. Es wäre unrealistisch, zu glauben, dass ich vor ihnen flüchten könnte. Ich bin mir sicher, dass ich es weder könnte, noch tun will. Ich möchte nur anders mit ihnen umgehen können. Vielleicht kann ich es mit diesem Bild ausdrücken: Indem ich mich auf die Wanderung begebe, werde ich versuchen, ins Licht eines neuen, selbstbestimmten Lebens zu gehen. Der Schatten wird hinter mir sein, er wird mit mir gehen, aber er wird auch hinter mir bleiben. Ich werde ihn hinter mir wissen und auch wissen, dass ich ihn nicht loswerden kann, dass er mich begleitet – aber eben hinter mir. Und so ist es auch keine Flucht.

Schatten

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