Vor sechs Jahren bin ich auf dem spanischen Jakobsweg gegangen. Auf diese Weise wollte ich den lang gehegten Wunsch Realität werden lassen und gleichzeitig meinen fünfzigsten Geburtstag begehen. Mein Ziel war es, direkt an meinem Geburtstag in Santiago einzutreffen und bis dahin den aragonesischen Weg vom Col de Somport an der französisch-spanischen Grenze geschafft zu haben, insgesamt etwa 880 km. Und wenn ich in meinem Tagesuch lese, welches ich im Flieger nach Montpellier begonnen habe, so finde ich auf den ersten acht Seiten nur eine Anhäufung von Sorgen und Ängsten, was alles schief gehen und nicht klappen könnte. So ist auch damals der Weg ein Versuch gewesen, mit all den Ängsten trotzdem fertig zu werden. Und es ging dann auch. Keine meiner Befürchtungen traf ein, alles klappte genau so, wei es geplant war – trotz verspäteter Züge, Sprachproblemen und den dreißig Zentimetern Schnee, die ich zu meiner Überraschung am Col de Somport antraf. Die Fotos von dieser Wanderung findet Ihr hier.
Ich werde oft gefragt, warum ich den Weg gehen wollte und was es mir denn gebracht habe. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Übersteigerte Religiosität war definitiv nicht der Grund. Unzweifelhaft tut mir das Laufen gut, es ist für mich eine überschaubare Anstrengung, die ich ohne Probleme leisten kann. Und genauso tut es mir gut, während der körperlichen Anstrengung mit mir allein zu sein. Über mich nachzudenken kann nicht grundsätzlich falsch sein. Und so hatte es durchaus meditativen Charakter, einen sandigen, mit vielen losen Steinen versehenen Pfad im Norden von Spanien zu laufen, ohne Musik zu hören, Internet zu benutzen o.ä. Besonders den ersten Teil des Weges habe ich auf diese Weise sehr genießen können. Es ist auch eine ganz andere Qualität der Wahrnehmung, wenn man sich an einen Ort, den man die ganze Zeit vorher bereits gesehen hat, über Kilometer hinweg im Schritttempo heran arbeitet, als wenn man mit dem Auto innerhalb von Minuten dort ankommt. Dieses Bewusste und die ihm zugrunde liegende Langsamkeit war eine ganz intensive Erfahrung auf dem Weg, die ich jedem empfehlen kann.
Aber da ist noch mehr. Durch die körperliche Arbeit wird im Inneren ebenfalls etwas in Bewegung gebracht. Vielleicht ist das nicht grundsätzlich garantiert, aber bei mir war es so. Es äußerte sich bei mir in zunehmenden Schüben von großer Traurigkeit und gipfelte in einen heftigen Traum, als ich in Leon war. Dabei träumte ich von dem Haus, in dem ich geboren wurde, und schrieb die ungeschminkte Wahrheit über meine Herkunftsfamilie in ein Kondolenzbuch. Und mein Therapeut meinte später, als ich ihm von diesem Traum erzählte, dass ich nun zum ersten Mal wirklich eingeräumt hätte, wie es wirklich gewesen ist. Ich bin damals entsprechend geschockt über die Intensität des Traumes weitergelaufen und hätte gerne weinen können. Ganz habe ich es nicht geschafft, am Cruz de Ferro war ich fast soweit. Ich bin dann den Weg zuende gelaufen, habe gute und ziemlich schlechte Tage erlebt – und durchgestanden. Und es erfüllt mich mit Stolz, das geschafft zu haben, woran ich selbst eher gezweifelt hatte. Und fand es auf dem Rückflug merkwürdig, innerhalb von vierzig Minuten die Strecke zu überwinden, für die ich fast dreißig Tage zu Fuß benötigt hatte. Und das Fahren im Auto war mir, nach den Tagen der Langsamkeit, die ich wirklich genossen hatte, viel zu schnell. Und nun steht es an, einen Weg zu gehen, der länger ist und vielleicht härter. Der keine organisierten Herbergen kennt, abseits von touristischen Attraktionen verläuft, nur durch Natur und ziemliche Einsamkeit. Und an dessen Ende keine Kathedrale steht, kein Festgottesdienst gefeiert wird und es keine Urkunde gibt – nur eine Stele im Wald, die darauf wartet, dass ich sie erreiche. Darauf freue ich mich schon jetzt!
Kommentare