Der kleine Unterschied

Es war ein warmer Sommerabend und wir trafen uns, ihrem Wunsch entsprechend, auf einer einsamen Bank abseits im Park, die noch ein wenig von der abendlichen Sonne beschienen wurde. Mir wurde ganz heiß, als ich an die stillen Verheißungen dieses Treffpunkts dachte.

“Was weißt Du von mir?” fragte sie mich, als es mir nun, nach endlosen Bemühungen und unter Aufbietung all meiner Überredungskunst, endlich gelungen war, sie persönlich zu treffen.

Ich hatte ihre Entwicklung seit Jahren verfolgt und die vielen Berichte über sie meist mehrmals gelesen. Zudem hatte ich andächtig viele Bilder von ihr gesammelt und jede greifbare Information, derer ich habhaft werden konnte, aufgesogen. In meinen Gedanken und Träumen hatte ich sie oft getroffen und später mit ihr zusammen gelebt, sodass ich ein exaktes Bild von ihr im Kopf hatte. Es stand glasklar vor meinem geistigen Auge und ein Irrtum war einfach unmöglich. Voller innerer Überzeugung war ich mir sicher, dass dieses Bild mit der Wirklichkeit weitgehend übereinstimmen musste.

So fiel es mir leicht, ausführlich auf ihre Frage einzugehen. Während sie mich aus ihren tiefgründigen Augen ruhig ansah, führte ich aus, was ich alles wusste. Mit einem Gefühl aufkeimenden Stolzes angesichts ihrer Aufmerksamkeit berichtete ich und war mir ihrer Anerkennung angesichts meines umfangreichen Wissens und der Interpretation der Details sicher.

Sie hörte mir konzentiert zu und unterbrach mich nicht ein einziges Mal, während sie mich betrachtete. Ich liebte diesen ruhigen, forschenden Blick aus ihren großen, dunklen Augen. Bei einem solchen Blick war ich schon immer schwach geworden. Und ich freute mich bereits auf die romantisch-erotischen Stunden auf dieser Parkbank, die nun folgen würden. Sicherlich hatte ich ihr mit meinem umfangreichen Wissen schwer imponiert, sodass ich nun von weiteren Treffen und danach von einer freudigen, gemeinsamen Zukunft träumen dürfte. Als sie ihren Blick senkte, spürte ich alarmiert, dass irgend etwas schief zu laufen schien. So war ich gerade dabei, durch eine schnelle Zusammenfassung meine Ausführungen zu Ende zu bringen, als sie mich mit einer Handbewegung unterbrach.

“Du weißt viel über mich, das ist nicht zu übersehen.” sagte sie ruhig. “Du nimmst mich durch die Augen Dritter wahr, siehst mich mit ihren Werturteilen und Ansichten. Du kennst mich über oberflächliche und verzerrte Details, von denen Du gelesen oder gehört hast, ohne zu prüfen, was daran wahr ist und was nicht. Und doch glaubst Du, mich aufgrund dieser Berichte zu kennen, ohne jemals ein Wort mit mir gewechselt zu haben?” Sie schüttelte den Kopf, während sie zu Boden blickte. Dann sah sie mir in die Augen.

“Vielleicht weißt Du vieles über mich. Von mir weißt Du gar nichts!” sagte sie erhob sich und wandte sich ab. Mit schnellen Schritten verschwand sie in der Dämmerung. Völlig geschockt und erstarrt blieb ich allein auf der Parkbank zurück. Alle meine erotischen Träume und Fantasien der letzten Tage waren mit dieser Bank verbunden gewesen und zerplatzten nun wie ein Luftballon. Und dann wurde es mir plötzlich klar: Sie hatte Recht!

Was wissen wir wirklich vom Anderen?

Der kleine Unterschied

3 Gedanken zu „Der kleine Unterschied

  • 22. Juli 2018 um 10:36 Uhr
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    So ist es wirklich oft…wie oft wird Etwas hinterfragt oder geht man einer Info auf den Grund oder nimmt so ne oberflächliche Info einfach an? Gut geschrieben, Matthias!

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    • 29. Juni 2018 um 10:32 Uhr
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      Es ist kein Traum. Es ist eine selbst geschriebene Geschichte, mit der ich einen Inhalt transportiere, der mich sehr beschäftigt hat…..

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