Sturm

Es ist jetzt Nachmittag, ich habe mich für einen Mittagsschlaf hingelegt. Ich habe die Gardinen nicht vorgezogen und habe somit den Blick nach draußen, wo die Sonne scheint. Bereits gestern wurde ein Sturm, ein Unwetter für die Sierra vorausgesagt. Und wenn ich auch meistens nicht viel auf die Wettervorhersage gebe, so ist sie doch sehr zutreffend gewesen. Bereits am Vormittag weht der Wind so stark, dass es selbst, wenn man in der Sonne saß, ein bisschen zu kalt war. Und die Temperatur ist von 33 Grad auf 17 Grad gefallen.

Bereits zu dieser Zeit türmten sich die Wolken im Westen oberhalb der Berge auf. Inzwischen sind die Wolken so stark geworden, dass die Berge nicht mehr zu sehen sind. Sie sind vollständig eingehüllt, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie es dort gerade ist, wenn man sich in dem heftigen Wind mit dem Rucksack auf dem Rücken und den Stöcken in der Hand aufwärts durch den Schnee gequält. Und es sind sowohl Gewitter als auch Schneesturm vorausgesagt.

Das war somit vorhersehbar. Viel interessanter jedoch sind andere Stürme, die ich live miterleben konnte. Nachdem ich heute mit Karin gefrühstückt hatte, setzten wir uns, wegen des schönen Sonnenscheins, in einen Park. Wir hatten beide nichts besonderes vor und genossen einfach das Sitzen im Freien und in der Sonne. Dabei trafen wir ständig andere Hiker, die in Gruppen oder einzeln auf dem Weg zum Frühstück waren und die wir oftmals auf dem Weg bereits mehrfach getroffen hatten. Alte Bekannte also. Martin aus England kam vorbei, von weitem habe ich Everett und Kathryn gewunken, auch Anne und ihr Vater aus Frankreich kamen vorbei, über die ich ja bereits geschrieben habe.

Und dann traf ich eine Gruppe von fünf Wanderern wieder, die sich direkt auf unseren Sitzplatz zubewegten. Es sind drei junge Amerikaner, dazu Mandy aus New York, die ich sehr oft auf dem Weg getroffen habe und Mamie, die aus Alaska kommt und die ich auch bereits seit längerem kenne. Sie sind auch vor zwei Tagen hier eingetroffen, übernachten aber jede Nacht woanders. Daher war ich ihnen noch nicht begegnet. Sie haben die letzten Meilen als Gruppe bestanden und haben daher ein relativ enges Verhältnis zueinander.

Nun jedoch gehen ihre Meinungen auseinander. Mandy zum Beispiel berichtete, dass sie während einer Flussdurchquerung, bei der die fünf mit den Armen eine Kette gebildet hatten, durch den reißenden Strom mit den Füßen den Bodenkontakt verloren hat und ohne die eingehängten Arme mit Sicherheit weggeschwemmt worden wäre. Zudem ist sie an einer steilen Stelle weggerutscht, 20 m weit abwärts geschlittert und mit Glück breitbeinig an einem Baumstamm hängengeblieben. Dass ihr Bein unter diesen Umständen ziemlich ramponiert aussieht, ist sicher leicht vorstellbar. Insofern steht sie der Fortsetzung des Weges an dieser Stelle sehr kritisch gegenüber. Mamie dagegen merkt man die Angst an. Sie hat nicht so viel gesprochen, aber ich kann mir nach ihrem Gesichtsausdruck vorstellen, dass sie einiges erlebt hat, was es ihr nicht leicht macht, jetzt weiter zu laufen.

Die drei jungen Männer dagegen strotzen nur so vor Selbstbewusstsein, wollen Meile für Meile abspulen und sich nicht von dieser Absicht abbringen lassen. Sie scheinen keine Angst zu haben oder haben tatsächlich keine. Sie wollen den Weg um jeden Preis fortsetzen, morgen im Verlauf des Tages oder am Dienstag ganz früh. Und so entstand ein Sturm besonderer Art. Die Gruppe, bestehend aus fünf Personen, zerfiel in aller Stille vor meinen Augen. Der Sturm hatte die Verbindung gekappt. In einem Gespräch erzählte Mandy, dass die jungen Männer sehr bestimmend wären, sie gleichzeitig alle durch das gemeinschaftliche Erleben so fest miteinander verwachsen wären, dass sie das Gefühl hätte, wertvolle Freunde zu verlieren, wenn sie die Gruppe verlässt. Ich merkte ihr die Tränen an und nahm sie ganz fest in den Arm. Auch Mamie schien den Tränen nahe.

Und da die Jungs auf der Karte den Weg zeichneten, Probleme erörterten und die Planung fortsetzten, wurde es offenbar, dass ein gemeinsames Wandern wohl nicht mehr möglich wäre. Und auch, wenn es keinerlei Streit oder böse Worte gegeben hat, so gingen beide Gruppen zum Essen in entgegengesetzter Richtung auseinander, die Jungs nach links und die Mädchen nach rechts. Es tat mir weh, diesen Kampf und den daraus resultierenden Schmerz mitzuerleben. Ich kenne alle fünf von unserem gemeinschaftlichen Weg, schätze sie und der Kontakt war stets ein sehr netter. Und es ist schlimm, Freunde leiden zu sehen.

Wie sie sich letztlich entscheiden, steht vielleicht noch nicht fest. Für mich jedoch war es wichtig, diese Auseinandersetzung als Beobachter zu erleben. Denn sie zeigt mir, dass ich mit meiner, derzeit noch nicht endgültig feststehenden Planung auf einem für mich richtigen Weg bin. Ich handle nach meinem Gefühl und zwinge mich nicht, die Meilen in der vorgegebenen Reihenfolge zu absolvieren. Durch diese Auseinandersetzung ist sehr viel innere Ruhe eingekehrt, und ich glaube mich auf dem richtigen Weg. Ich muss meine Gesundheit und mein Leben nicht riskieren, nur um einem Anspruch nachzujagen, der nicht der meinige ist. Die beiden Mädchen waren der gleichen Meinung. Und so kristallisiert sich nach und nach ein klarer Weg für mich heraus. Den Schmerz hätte ich den Fünfen gerne erspart, aber sie haben mir mit ihrem Sturm noch mehr Klarheit gebracht.

Sturm

Ein Gedanke zu „Sturm

  • 12. Juni 2017 um 8:04 Uhr
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    Hallo Matthias, ich möchte Dir meine Grüße und meinen Respekt senden. Ich werde weiter bei Dir sein.
    Alles Gute weiterhin und viel Glück
    Klaus

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